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17.02.2004 11:05

Gesundheitswesen: Kopfpauschale versus Bürgerversicherung

Ramona Ehret Stabsstelle Kommunikation, Events und Alumni
Technische Universität Berlin

    Gesundheitswesen: Kopfpauschale versus Bürgerversicherung

    Der Reformdruck in den sozialen Sicherungssystemen hält unvermindert an. Die demographische Herausforderung mit ihrem Konflikt zwischen der jungen und alten Generation verlangt neue Antworten. Der medizinische Fortschritt bei steigenden Ansprüchen der Bevölkerung sowie die chronisch defizitäre Finanzlage in der Sozialversicherung erfordern innovative und europaweite Lösungen.
    Klaus-Dirk Henke, Professor für Finanzwissenschaft und Gesundheitsökonomie an der TU Berlin, stellt im Schwerpunktheft "Gesundheit und Gerechtigkeit" der Wissenschaftszeitschrift UNIVERSITAS die Bürgerversicherung und die Kopfpauschale als zwei der derzeit am häufigsten diskutierten Finanzierungsmodelle gegenüber.

    Die "Bürgerversicherung"
    Es sei vorstellbar, so Professor Henke, die gesamte Bevölkerung in der bestehenden gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zu versichern. Beamte, bisher privat Versicherte, also überwiegend Freiberufler und Selbstständige, und freiwillig in der GKV
    Versicherte würden alle in die öffentlich-rechtliche GKV gezwungen. Die bestehenden etwa 50 privaten Krankenversicherungen müssten in diesem Fall um ihre Existenz fürchten.

    Den zusätzlichen Beitragseinnahmen durch die dazugewonnenen Mitglieder stünden fiskalisch gesehen Ausgabensteigerungen gegenüber, die sich dadurch ergeben, dass die Neumitglieder selbstverständlich auch Leistungen in Anspruch nehmen werden. Um die gewünschten fiskalischen Wirkungen zu verstärken und um höhere Beitragssätze zu vermeiden, wollen die Befürworter der Bürgerversicherung Kapitaleinkünfte und Mieteinnahmen zusätzlich zu den Löhnen und Gehältern in die Bemessungsgrundlage aufnehmen. Diese wird damit verbreitert und entwickelt sich in Richtung des zu versteuernden Einkommens (§ 2 EStG). Die Bürgerversicherung weist insoweit eine große Nähe zu einer proportionalen Einkommensteuer auf; sie würde zu der bestehenden progressiven Einkommensteuer hinzutreten. Die Grundstruktur der jetzigen GKV würde durch die Bürgersteuer nicht verändert. Allerdings nähme der Arbeitnehmeranteil zu, da die Arbeitgeberbeiträge nur auf die Löhne und Gehälter, nicht aber auch aus den individuellen Zinseinkünften und Mieteinnahmen erhoben werden können. Sie müssten allerdings im Rahmen des Beitragseinzugs (Inkasso) durch die Arbeitgeber geprüft werden, um die Höhe der Beitragssätze für die Arbeitgeber zu ermitteln. Insoweit wäre eine "Finanzamtslösung" ehrlicher, da dort alle steuerlichen Gegebenheiten bekannt sind und auch zur Verfügung stehen. Eine Doppelerhebung von Steuern und steuerähnlichen Abgaben in der Sozialversicherung entfiele; Sozialversicherungsbeiträge und Einkommensteuern wären inhaltlich nicht mehr zu trennen und sollten dann über eine unabhängige Institution wie das Finanzamt erhoben werden.

    Kopfpauschale/Kopfprämie
    Im Unterschied zur Bürgerversicherung, so Professor Henke, setzt die als Kopfpauschale (auch Kopfprämie) bekannt gewordene individuelle Beitragszahlung nicht mehr bei einem versicherungs- oder steuerrechtlichen Einkommensbegriff an, löst also die Gesundheitspolitik insoweit zunächst einmal vom Arbeitsmarkt. Mit der Entlastung des Faktors Arbeit entfiele die beschäftigungshemmende Kopplung der Beiträge an die Arbeitsentgelte. Die Lohnkosten stünden über die Höhe der Beitragssätze nicht mehr ständig in der arbeitsmarktpolitischen Diskussion. Das Gesundheitswesen könnte sich als personalintensive Dienstleistungs- und Wachstumsbranche freier entfalten. Außerdem wird der Druck von den Trägern der Gesundheitspolitik genommen, mit Rücksicht auf die Arbeitskosten die Gesundheitsausgaben global, regional und sektoral zu deckeln. Anstelle von ständiger Kostendämpfung und der Forderung nach Beitragssatzstabilität treten die viel wichtigeren Gesundheitsleistungen in den Vordergrund. Sie gilt es über einen kontrollierten Wettbewerb qualitätsmäßig abzusichern und auf unterschiedlichen Wegen der Bevölkerung zur Verfügung zu stellen. Im Modell der Kopfpauschalen handelt es sich nicht um eine Zwangsversicherung in einer Kasse, sondern um eine neue Anbieterpluralität von Krankenkassen für die verschiedenen Gruppen der Bevölkerung, die sich auch - wie bisher - über bestimmte Berufsgruppen und Lebensformen definieren lassen. Alle hätten die gleiche Grundabsicherung, allerdings mit Unterschieden in der Art, wie sie zur Verfügung gestellt werden.

    Der Arbeitgeberbeitrag wird in diesem Modell als Lohn ausgezahlt. Die so genannte paritätische Selbstverwaltung mit ihrem Verbandswesen wird abgelöst und durch mehr Unternehmensverantwortung ersetzt. Jede Frau und jeder Mann hätte absolute Beträge in unterschiedlicher Höhe für die Grundsicherung zu zahlen und würden dafür die gewünschten Gesundheitsleistungen bekommen. Durch unterschiedliche Tarife (Selbstbehalts- und Bonustarife, Tarife mit besonderen Qualitätssiegeln und eingeschränkter Arztwahl, Tarife mit versicherungseigenen Einrichtungen) ergebe sich bei einem funktionsfähigen Wettbewerb eine Differenzierung, die aller Voraussicht nach zu einem besseren und billigeren Krankenversicherungsschutz führt. Prämiencharakter würde sich nur dann ergeben, wenn zwischen Männern und Frauen oder nach Alter differenziert würde. Die Kopfpauschalen lägen im Wettbewerb je nach Ausgestaltung zwischen 180 und 220 Euro monatlich. Sie fallen optisch noch geringer aus, wenn das Krankengeld ausgegliedert ist und die zusätzlichen Einnahmen aus der vorgeschlagenen Praxisgebühr berücksichtigt werden. Die Erwerbstätigen werden durch die Kopf- bzw. Bürgerpauschalen ent- und die nicht erwerbstätigen älteren Menschen belastet. Ihre Ausgaben sind im Durchschnitt dreimal so hoch und ihre Beiträge belaufen sich derzeit auf die Hälfte der Beitragszahlungen der erwerbstätigen Bevölkerung.

    Durch die Abkoppelung der Beiträge von den Lohnkosten und die Auszahlung des Arbeitgeberbeitrages ergeben sich neue Anreizstrukturen und mehr Wettbewerb in der Leistungserbringung. Die künstliche Trennung zwischen der GKV und der privaten Krankenversicherung (PKV) würde offiziell zu einem sich ohnehin bereits entwickelnden neuen Angebot von Versicherungsstrukturen und -leistungen führen.

    Das Schwerpunktheft der UNIVERSITAS "Gesundheit und Gerechtigkeit" mit dem Beitrag von Professor Kliemt kann im Rahmen eines kostenlosen und unverbindlichen Probeabonnements bei Dirk Katzschmann, dem Chefredakteur der UNIVERSITAS, angefordert werden.

    Alle Beiträge des Heftes:
    Klaus-Dirk Henke: Plädoyer für die Kopfpauschale
    Dietrich Grönemeyer: Heilen statt Kranksparen. Die Medizin der Zukunft muss human bleiben.
    Hermann Heimpel: Zwischen Patientenwohl und Kostendruck
    Hartmut Kliemt: Grundgleichheit in der Grundversorgung
    Gerhard Schulte: Mehr Solidarität durch Bürgerversicherung
    Norbert Schmacke: Wettbewerb in der gesetzlichen Krankenversicherung
    Michael Arnold: Notwendigkeit und Grenzen in der Gesundheitsmedizin

    Anschrift der Redaktion:
    Redaktion UNIVERSITAS
    Dirk Katzschmann
    Birkenwaldstraße 44
    70191 Stuttgart

    E-Mail: universitas@hirzel.de
    Tel:: 0711/2582/240 oder o711/2582/352
    Internet: www.hirzel.de/universitas


    Weitere Informationen:

    http://www.hirzel.de/universitas


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Ernährung / Gesundheit / Pflege, Gesellschaft, Medizin
    überregional
    Wissenschaftliche Publikationen
    Deutsch


     

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