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Wissenschaft
Das Verständnis der zellulären und molekularen Mechanismen, welche der „Plastizität“ des Gehirns zugrunde liegen, ist entscheidend für die Erklärung vieler Krankheiten und Leiden. Die Plastizität sorgt dafür, dass das Gehirn lernen, sich entwickeln und umorganisieren kann. Neurowissenschaftlerinnen und Neurowissenschaftlern der Universität und Universitätsmedizin Göttingen (UMG) ist es nun gelungen, Synapsen, also die winzigen Kontaktstellen zwischen Nervenzellen, in wachen, erwachsenen Mäusen wiederholt abzubilden.
Dabei entdeckten sie erstmals, dass Neuronen im Gehirn erwachsener Tiere im primären visuellen Kortex mit einer erhöhten Anzahl „stiller Synapsen“ (d.h. neu gebildeter Synapsen, die inaktiviert sind), denen ein bestimmtes Protein (PSD-95) fehlt, strukturelle Veränderungen aufweisen, die bisher nur bei jungen Mäusen beobachtet wurden. Die Ergebnisse dieser Studie des Sonderforschungsbereichs 889 „Zelluläre Mechanismen sensorischer Verarbeitung“ sind in der Fachzeitschrift PNAS erschienen.
Es ist bekannt, dass es während der frühen Gehirnentwicklung kritische Phasen gibt, in denen das Gehirn besonders plastisch ist und individuelle Erfahrungen dazu führen, dass neuronale Schaltkreise neu organisiert und angepasst werden. In sich entwickelnden Gehirnen sind stille Synapsen häufig und sie helfen, die Verbindungen zwischen den Hauptneuronen funktionell zu optimieren. Die Forschungsteams von Prof. Dr. Siegrid Löwel (Universität Göttingen) und Prof. Dr. Oliver Schlüter (UMG) hatten bereits herausgefunden, dass die Reifung stiller Synapsen das postsynaptische Dichteprotein-95 (PSD-95) benötigt und frühe kritische Perioden schließt. Die spezifischen Prozesse, die bestimmen, ob synaptische Verbindungen erfahrungsabhängig erhalten oder abgebaut werden, waren jedoch weitgehend unbekannt.
Um dies zu untersuchen, bildeten die Teams Neuronen aus der Sehrinde der Maus vor und nach spezifischer Reizung eines Auges mit einem Zwei-Photonen-Mikroskop ab. Erstautor Rashad Yusifov von der Universität Göttingen erklärt: „Frühere Studien haben in der Regel anästhesierte Mäuse verwendet, aber wir wissen jetzt, dass die Narkose selbst die neuronale Plastizität beeinflussen kann, weshalb wir die aktuelle Studie an wachen Tieren durchgeführt haben. Diese anspruchsvolle Technik, mit der wiederholt sehr kleine Strukturen – etwa ein Tausendstel eines Millimeters – abgebildet werden können, ist nur in wenigen Labors weltweit möglich. Es können damit sogenannte dendritische Dornen – Zellfortsätze von Nervenzellen, die Reize aufnehmen können – beobachtet werden.“
Die Forscherinnen und Forscher entdeckten, dass Neuronen im Gehirn erwachsener Tiere, denen PSD-95 fehlt, einen verstärkten erfahrungsabhängigen Dornenabbau aufweisen – ein Effekt, der bisher nur bei jungen Tieren beobachtet wurde. Aufbauend auf ihren früheren Entdeckungen zeigt diese Teamarbeit, dass Neuronen ohne PSD-95 sowohl funktionelle als auch strukturelle Merkmale der Plastizität aufweisen, die mit einer kritischen Periode verbunden sind. Das bedeutet, dass diese Neuronen eine „jugendliche Fähigkeit“ haben, die Nervenzellverschaltungen, also Verbindungen zwischen Nervenzellen bis ins Erwachsenenalter umzustrukturieren. Seniorautorin Prof. Dr. Siegried Löwel von der Universität Göttingen sagt: „Unsere Ergebnisse werden helfen, die Regeln der Gehirnentwicklung, welche dem Lernen zugrunde liegen, besser zu verstehen. Zudem eröffnen sie neue Wege, um Konzepte für den klinischen Alltag zu entwickeln, welche die Regeneration und Rehabilitation erkrankter und verletzter Gehirne fördern."
Prof. Dr. Siegrid Löwel
Georg-August-Universität Göttingen
Abteilung für Systemische Neurowissenschaften
& Campus-Institut für Dynamik biologischer Netzwerke (CIDBN)
Von-Siebold-Straße 6, 37075 Göttingen
Telefon: 0551 39-20161 / 60
E-Mail: sloewel@gwdg.de
http://systemsneuroscience.uni-goettingen.de/
Yusifov R, Tippmann A, Staiger JF, Schlüter OM* und Löwel S* Spine dynamics of PSD-95-deficient neurons in the visual cortex link silent synapses to structural cortical plasticity, PNAS 2021. Vol. 118 No. 10 e2022701118, DOI: https://doi.org/10.1073/pnas.2022701118
Prof. Dr. Siegrid Löwel
Anne Günther/Uni Jena
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Wissenschaftler
Biologie, Medizin
überregional
Forschungsergebnisse
Deutsch
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