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Wissenschaft
Archäologe Achim Lichtenberger legt die erste große wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem berühmten Berg seit hundert Jahren vor – Wie das Bergmassiv zur Projektionsfläche für religiöse, politische und popkulturelle Imaginationen wurde – Adaption im Christentum – Zweite Folge des Forschungspodcasts „Religion und Politik“ des Exzellenzclusters
Auf dem Olymp: Das berühmte Bergmassiv war nach griechischer Mythologie von Göttern bevölkert, im wahren Leben aber laut Archäologen über Jahrtausende fast menschenleer. „So konnte der höchste Berg des Landes vom Altertum bis heute zur Projektionsfläche für ungewöhnlich viele menschliche Imaginationen und Aneignungen werden – religiös, politisch oder popkulturell“, sagt der Archäologe Prof. Dr. Achim Lichtenberger vom Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Uni Münster. Er hat soeben das erste Grundlagenwerk zum Olymp seit fast hundert Jahren im Kohlhammer Verlag vorgelegt. „Die Kenntnis des geografischen Ortes und sein Platz in der Vorstellungswelt der Menschen klaffen nirgends so weit auseinander wie beim Olymp.“ In der Antike kaum betreten, wurde er selbst in der Neuzeit erst 1912 bestiegen. „Bis zur massentouristischen Erschließung bleibt der Olymp ein geografisch präsenter, aber weitgehend unbekannter Ort – ähnlich dem Hades, der Unterwelt, die allerdings keine realgeografische Entsprechung hat. So entstand eine Vorstellung, die schillernd changiert zwischen realem Berg und überweltlichem Göttersitz.“
Die Bandbreite der Imaginationen und Aneignungen reicht von den religiösen Vorstellungen der olympischen Götter über politische Instrumentalisierungen durch die makedonischen Könige, die damit Anerkennung als Griechen suchten, bis zu touristischen Sehnsüchten heute. „Der Olymp als Sitz der Götter – Zeus, seiner Geschwister und göttlichen Kinder – ist in der Mythologie seit der Antike nahezu omnipräsent“, führt der Forscher aus. „Die Idee des Göttersitzes wurde räumlich losgelöst und universell übertragbar. Sie findet sich schließlich im ganzen Mittelmeerraum. Der Olymp, dessen Wortbedeutung bis heute nicht genau geklärt ist, wird zum Schlüsselzeugnis griechischer Kulturgeschichte. Er steht für die griechische Religion, die einerseits höchst lokal ist, andererseits im größeren Bezugsrahmen des Pantheons steht.“ Die Faszination dauert an und macht auch vor alltäglicher Aneignung nicht Halt: Lichtenberger hat vielfältige Beispiele wie den „Olymp“ genannten Kratzbaum für Katzen und die mobile Toilettenkabine gleichen Namens gefunden. Über seine Forschungsarbeiten zum Olymp berichtet er auch im Forschungspodcast „Religion und Politik“ (http://go.wwu.de/zemlq) zum aktuellen Themenjahr „Zugehörigkeit und Abgrenzung“.
Politische Instrumentalisierung – eigene olympische Spiele
Eine andere Form der Aneignung stellt die politische Instrumentalisierung des Olymps dar: So bauten makedonische Könige die Stadt Dion – der Name bedeutet so viel wie Stadt des Zeus – in der Küstenebene von Pieria nordöstlich des Berges im 4./5. Jahrhundert vor Christus als heilige Stadt am Olymp aus. Zur „kulturellen Akzeptanzoffensive“ gehörte auch das Ausrichten eigener olympischer Spiele, ergänzend zu denen in Olympia auf der Halbinsel Peloponnes. So wirkte König Archelaos I. der fehlenden Anerkennung der Makedonen als Griechen entgegen. Philipp II. setzte diese Bestrebungen durch Zeusdarstellungen in der Münzprägung fort. Schließlich wird der berühmte Tragödiendichter Euripides an den makedonischen Hof nach Pella geholt – und bezieht sich prompt in seinen literarischen Werken häufig auf den Olymp, im Unterschied zu den beiden anderen großen griechischen Dichtern Aischylos und Sophokles. „Mit diesem Kulturprogramm versuchten die makedonischen Könige, den makedonisch-thessalischen Olymp auf die Karte panhellenischer Sakraltopographie zurückzuholen“, so Lichtenberger. „Durch diese Vereinnahmung wird die Zugehörigkeit der makedonischen zur griechischen Kultur gezeigt, gleichzeitig geht damit eine Abgrenzung von anderen Nicht-Griechen einher.“ In der realen Geografie hingegen beendeten die Römer die makedonische Herrschaft im Jahr 168 vor Christus am Olymp-Massiv.
Jerusalem als christlicher Olymp?
In acht reich bebilderten Kapiteln führt Lichtenberger seine Leserinnen und Leser durch die verschiedenen Aneignungen des Berges: Literarische Zeugnisse, allen voran die „Illias“ des Homer, behandeln den Götterwohnsitz der religiösen Mythologie. Auch in Bildzeugnissen dominiert der überirdische Ort, eine Visualisierung der Topografie findet sich kaum. Die Region war gleichzeitig stets von strategischer Bedeutung und Schauplatz kriegerischer Auseinandersetzungen. Schon in der Antike bildete sich die zweifache Rezeption als mythologischer und tatsächlicher Ort und dessen Erschließung durch den Menschen heraus.
Dieses Prinzip wird später im Christentum aufgegriffen: Jerusalem ist zunächst eine reale Stadt in Palästina und Ort des Heilsgeschehens. In der Johannesapokalypse wird außerdem ein neues, himmlisches Jerusalem angekündigt, das zum Ende der Zeiten aus dem Himmel herabsteigen werde. Diese Dualität schlägt sich auch in realen Übertragungen Jerusalems nieder: Im europäischen Mittelalter werden vielerorts Nachbauten des Heiligen Grabes Jesu errichtet, auch in der Architektur und Stadtplanung zeigen sich topografische Anklänge an Jerusalem. „Wir finden hier vergleichbar zu der Vorstellung vom Olymp denselben Dreischnitt von irdisch zu himmlisch zu potentiell überall.“
Erste wissenschaftliche Betrachtung seit fast hundert Jahren
Das Buch „Der Olymp. Sitz der Götter zwischen Himmel und Erde“ schließt eine Forschungslücke: Weder die Archäologie noch die Altertumswissenschaften, Klassische Philologie oder Alte Geschichte haben dem Berg und seinem enormen Facettenreichtum bisher viel Aufmerksamkeit geschenkt – im Unterschied etwa zu Athen, Sparta oder Olympia. Mit seiner Publikation hat Achim Lichtenberger das erste Grundlagenwerk über den Olymp seit 1923 vorlegt. (apo/vvm)
Der Forschungspodcast „Religion und Politik“ aus dem gleichnamigen Exzellenzcluster der Uni Münster ist abrufbar unter Spotify, Deezer und Apple Podcasts sowie auf der Website des Forschungsverbundes. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler berichten in ihren Podcastfolgen persönlich, aktuell und anschaulich aus ihrer Arbeit in der interdisziplinären Religionsforschung. Der Podcast begleitet auch das laufende Themenjahr „Zugehörigkeit und Abgrenzung“ des Exzellenzclusters. Die Forschenden aus gut 20 Fächern der Geistes- und Sozialwissenschaften decken mit ihren Folgen eine große Bandbreite an Themen, Fächern und Epochen ab. An Fallbeispielen von der Antike bis heute erörtern sie, wie Zugehörigkeiten zu politischen, kulturellen und religiösen Gruppen und Identitäten entstehen, wie sie Konflikte provozieren und Ausgleich zustande kommen kann. (sca/vvm)
Achim Lichtenberger: Der Olymp. Sitz der Götter zwischen Himmel und Erde, Stuttgart: Kohlhammer 2021.
https://www.uni-muenster.de/Religion-und-Politik/podcastundvideo/der_Olymp.html
Prof. Dr. Achim Lichtenberger (Foto: WWU)
Exzellenzcluster "Religion und Politik"
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Geschichte / Archäologie, Kulturwissenschaften, Philosophie / Ethik, Politik, Religion
überregional
Forschungs- / Wissenstransfer, Forschungsergebnisse
Deutsch
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