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03.11.2021 13:00

Ein neues „Gepant“ für die Migräne-Prophylaxe

Dr. Bettina Albers Pressestelle der DGN
Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V.

    Das Ziel einer optimalen Migräneprophylaxe ist eine zielgerichtete, wirksame und möglichst personalisierte („passgenaue“) Therapie. Die Wahl der Medikamente richtet sich dabei nach individuellen Faktoren wie Verträglichkeit bzw. Nebenwirkungen und individuellen Begleiterkrankungen. Zur Migräneprophylaxe werden zunehmend verschiedene neue Substanzen zur Verfügung stehen, die bei der Migräneentstehung eingreifen. Eine dieser Substanzen ist Atogepant, das sich in einer Phase-III-Studie zur Migräneprophylaxe wirksam gezeigt hat [1]. Die Prophylaxe von Migräneanfällen ist auch Thema auf dem 94. DGN-Kongress, der heute beginnt.

    In Deutschland leiden ungefähr 20% der Frauen und 8% der Männer an Migräne [2]. Die Bedeutung dieser hohen Prävalenz ist vielfältig, sie reicht über die individuelle Krankheitslast hinaus in alle gesellschaftlichen Bereiche, privat wie am Arbeitsplatz. Es handelt sich um eine neurovaskuläre Erkrankung, für die es dank moderner Erkenntnisse zu den Pathomechanismen inzwischen verschiedene kausal ansetzende Therapien zur Behandlung akuter Migräneattacken und für die Prophylaxe gibt. „Goldstandard“ der Akutbehandlung (bei Nichtansprechen auf nichtsteroidale Analgetika) sind heute die Triptane.

    Für die Migräneprophylaxe rücken zurzeit Substanzen in den Fokus, die an dem migräneauslösenden „Calcitonin-Gene-Related-Peptide“ (CGRP) ansetzen wie beispielsweise CGRP-Antikörper oder die CGRP-Rezeptor-Antagonisten. Bei Letzteren handelt sich um sogenannte „small molecules“, dazu gehören unter anderem die Gepante (z. B. Rimegepant, Ubrogepant). Eine Migräneprophylaxe sollte erfolgen, wenn die Akutbehandlung der Attacken nicht ausreicht (Häufigkeit, Dauer oder Stärke bzw. nach Leidensdruck oder Einschränkung der Lebensqualität sowie bei Risiko eines Medikamentenübergebrauchs). In Frage kommen ganz unterschiedliche Substanzen von Beta-Blockern über Amitriptylin oder Topiramat bis hin zu Botulinumtoxin. Ziel ist immer, Frequenz, Stärke und Dauer der Attacken zu reduzieren. Gerade bei der Prävention kann, den jeweiligen Leitlinien entsprechend, künftig eine personalisierte, zielgerichtete Therapie anhand von Faktoren wie individuelle Therapieresistenz, atypische Verläufe oder bestimmten Komorbiditäten (wie Depressionen, Angststörungen, zusätzliche Schmerzproblematik) ausgewählt werden. Dabei wird künftig möglicherweise eine weitere Substanz zur Verfügung stehen: das für die Prophylaxe-geeignete Atogepant, dessen Wirksamkeit in einer Phase-III-Studie überprüft wurde [1].

    In der Studie wurden Erwachsene mit einer Migränelast von 4-14 Tagen pro Monat doppelblind zu gleichen Teilen in vier Gruppen randomisiert (1:1:1:1). Sie erhielten über 12 Wochen entweder einmal täglich oral Atogepant (in drei verschiedenen Dosierungen) oder Placebo. Der primäre Endpunkt war die Änderung der mittleren Anzahl der monatlichen Migräne-Tage. Sekundäre Endpunkte beinhalteten die Zahl monatlicher Kopfschmerz-Tage, eine Reduktion des Ausgangswertes um mindestens 50%, die Lebensqualität und den AIM-D-Score („Activity Impairment in Migraine-Diary”), der die Migräne-bedingte Beeinträchtigung im Alltag erfasst. Gescreent wurden 2.270 Patientinnen und Patienten, 910 wurden in die Studie eingeschlossen und 873 konnten in die abschließende Analyse einbezogen werden. 214 Teilnehmende erhielten 10 mg Atogepant, 223 erhielten 30 mg, 222 erhielten 60 mg und 214 Placebo. Die mittlere Zahl monatlicher Migräne-Tage lag vor der Studie in den vier Gruppen zwischen 7,5-7,9 Tagen. Die Zahl sank innerhalb der 12 Wochen in der 10-mg-Gruppe um 3,7 Tage, in der 30-mg-Gruppe um 3,9 Tage, in der 60-mg-Gruppe um 4,2 Tage und in der Placebogruppe um 2,5 Tage. Damit ergab sich gegenüber Placebo ein Unterschied vom Ausgangswert von -1,2 Tagen unter 10 mg Atogepant, -1,4 Tagen unter 30 mg und -1,7 Tagen unter 60 mg (p<0,001 für alle Vergleiche mit Placebo). Für die sekundären Endpunkte errechnete sich ebenfalls ein Vorteil gegenüber Placebo (mit Ausnahme des AIM-D-Scores für die 10 mg Dosis). Die häufigsten Nebenwirkungen waren Verstopfung (6,9-7,7% in den Atogepant-Gruppen) und Übelkeit (4,4-6,1%). Schwere Nebenwirkungen traten nur in der 10-mg-Gruppe auf (ein Asthmaanfall und eine Optikusneuritis).

    Für eine weitere Studie zur Migräneprophylaxe mit einem zweiten CGRP-Rezeptor-Antagonisten (Rimegepant) [3] wurden 747 Betroffene (23% mit chronischer Migräne) rekrutiert. Sie erhielten umtägig 75 mg Rimegepant versus Placebo. Zu Beginn betrug die mittlere Zahl monatlicher Migräne-Tage 10,1. In der Placebogruppe sank die Zahl um 3,5 Tage, unter Rimegepant um 4,3, woraus sich ein Vorteil von 0,8 Tagen ergab, was für die Substanz nur eine geringe prophylaktische Wirkung bei Migräne bedeutet.

    „An diesen Studien sehen wir, dass es nicht damit getan ist, kausale Ansatzpunkte für neue Therapien zu finden“, kommentiert Prof. Dr. Hans-Christoph Diener, Pressesprecher der DGN, „denn von den bisher untersuchten CGRP-Rezeptor-Antagonisten eignen sich offenbar nicht alle gleichermaßen zur Migräneprophylaxe. Atogepant zeigte sich mit oralen Dosierungen von 10 bis 60 mg als wirksames Therapieprinzip zur Migräneprophylaxe – bei relativ geringen Nebenwirkungen.“

    Der Experte verweist allerdings auch auf die Wirtschaftlichkeit dieser Therapie, die z.B. in den USA Jahrestherapiekosten von ca. 10.000 $ pro Patientin/Patient verursachen. In Deutschland ist es derzeit noch nicht zugelassen. Dazu kommt, dass in indirekten Vergleichen Atogepant weniger wirksam ist als die monoklonalen Antikörper gegen CGRP oder den CGRP-Rezeptor. „Es muss sichergestellt sein, dass die Betroffenen alle anderen Therapieoptionen ausgeschöpft haben und nach Möglichkeit ihren Lebensstil so weit umgestellt haben, dass sie Migräneauslöser bewusst vermeiden und insbesondere durch regelmäßige Bewegung und Sport Mechanismen der ‚natürlichen Migräneprophylaxe‘ stärken.“

    Literatur
    [1] Ailani J, Lipton RB, Goadsby PJ et al. Atogepant for the Preventive Treatment of Migraine. N Engl J Med 2021 Aug 19; 385 (8): 695-706 doi: 10.1056/NEJMoa2035908.
    [2] https://dgn.org/leitlinien/ll-030-057-2018-therapie-der-migraeneattacke-und-prop...
    [3] Croop R, Lipton RB, Kudrow D et al. Oral rimegepant for preventive treatment of migraine: a phase 2/3, ran-domised, double-blind, placebo-controlled trial. Lancet 2021; 397 (10268): 51-60 doi: 10.1016/S0140-6736(20)32544-7.

    Pressekontakt
    Pressestelle der Deutschen Gesellschaft für Neurologie
    c/o Dr. Bettina Albers, albersconcept, Jakobstraße 38, 99423 Weimar
    Tel.: +49 (0)36 43 77 64 23
    Pressesprecher: Prof. Dr. med. Hans-Christoph Diener, Essen
    E-Mail: presse@dgn.org

    Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V. (DGN)
    sieht sich als wissenschaftliche Fachgesellschaft in der gesellschaftlichen Verantwortung, mit ihren über 10.700 Mitgliedern die neurologische Krankenversorgung in Deutschland zu sichern und zu verbessern. Dafür fördert die DGN Wissenschaft und Forschung sowie Lehre, Fort- und Weiterbildung in der Neurologie. Sie beteiligt sich an der gesundheitspolitischen Diskussion. Die DGN wurde im Jahr 1907 in Dresden gegründet. Sitz der Geschäftsstelle ist Berlin. www.dgn.org

    Präsident: Prof. Dr. med. Christian Gerloff
    Stellvertretender Präsident: Prof. Dr. Gereon R. Fink
    Past-Präsidentin: Prof. Dr. med. Christine Klein
    Generalsekretär: Prof. Dr. Peter Berlit
    Geschäftsführer: Dr. rer. nat. Thomas Thiekötter
    Geschäftsstelle: Reinhardtstr. 27 C, 10117 Berlin, Tel.: +49 (0)30 531437930, E-Mail: info@dgn.org


    Originalpublikation:

    doi: 10.1056/NEJMoa2035908.


    Weitere Informationen:

    https://www.dgnvirtualmeeting.org


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten
    Medizin
    überregional
    Wissenschaftliche Publikationen, Wissenschaftliche Tagungen
    Deutsch


     

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