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02.04.2004 13:01

Jäger und Sammler der - fast - verlorenen Worte

Dr. Christian Jung Stabsreferat Kommunikation
VolkswagenStiftung

    1,3 Millionen Euro für vier Projekte zur Dokumentation bedrohter Sprachen

    Die VolkswagenStiftung unterstützt mit rund 1,3 Millionen Euro vier weitere Projekte in ihrer Initiative zur "Dokumentation bedrohter Sprachen". Diese Förderinitiative hat zum einen das Ziel, sowohl die Wissenschaft als auch die Öffentlichkeit für die Problematik "aussterbender Sprachen" zu sensibilisieren. Vor allem aber geht es darum, die in ihrer Existenz bedrohten Sprachkulturen so weit aufzuzeichnen, dass spätere Generationen von Linguisten anhand des dokumentierten Materials noch die ganze Sprache beschreiben können. So soll zumindest verhindert werden, dass Sprachen verschwinden, ohne im kulturellen Gedächtnis der Welt eine Spur zu hinterlassen. Folgende Projekte wurden jetzt - für jeweils drei Jahre - bewilligt:

    1.

    285.200 Euro für das Vorhaben "Documenting the languages of the People of the Center, especially Bora and Ocaina (North West Amazon)" von Frank Seifart, Sprachwissenschaftliches Institut der Universität Bochum - in Zusammenarbeit mit Professor Dr. Nikolaus Himmelmann, Universität Bochum, Doris Fagua, Université Paris 7, und Dr. Jürg Ulrich Gasché, CNRS Paris, sowie Edmundo Pereira, Universidade Federal do Rio de Janeiro, Brasilien;

    2.

    382.400 Euro für das Vorhaben "Beaver knowledge systems: documentation of a Canadian First Nation language from a placenames perspective" von Dr. Dagmar Jung vom Institut für Linguistik, Allgemeine Sprachwissenschaft der Universität Köln;

    3.

    305.800 Euro für das Vorhaben "Towards the documentation of Saliba/ Logea, an endangered language of Papua New Guinea" von Dr. Anna Margetts, School of Languages, Cultures and Linguistics, Linguistics Program der Monash University, Victoria, Australien - in Zusammen-arbeit mit Professor John Hajek, Department of French and Italian Studies der University of Melbourne, Australien, und Professor Dr. Ulrike Mosel, Seminar für Allgemeine Sprachwissenschaft der Universität Kiel;

    4.

    330.000 Euro für das Vorhaben "Lowland Chontal and cultural heritage: a documentation project in Southeastern Oaxaca, México" von Professor Dr. Ortwin Smailus, Archäologisches Institut der Universität Hamburg - in Zusammenarbeit mit Loretta O'Connor, Department of Linguistics der University of California, Santa Barbara, USA, und Peter C. Kröfges, Department of Anthropology der University at Albany, USA.

    Weitere Informationen im nachfolgenden Text der Presseinformation:

    Zu 1: Das deutsch-französisch-brasilianische Forscherteam unter Federführung von Frank Seifart von der Universität Bochum beschäftigt sich mit den "People of the Center", einer Gruppe von Sprechergemeinschaften in Nord-West-Amazonien. Diese bewohnen - über 3.000 Kilometer vom Meer entfernt - ein nicht schiffbares Gebiet im Regenwald, das zu den entlegensten der Welt zählt. Entsprechend groß ist hier die botanisch-zoologische und die sprachliche Diversität. In dieser Region finden sich in einem gemeinsamen kulturellen Komplex sieben verschiedene Sprachen - Bora, Ocaina, Witoto, Nonuya, Muinane, Andoke und Resigaro - aus zwei unterschiedlichen Sprachfamilien (in einem Fall handelt es sich um eine isolierte Sprache). Sie alle haben typologische Charakteristiken gemein wie zum Beispiel eine hochgradig polysynthetische morphologische Struktur mit Wörtern, die über neun oder gar zehn angehängte Silben verfügen können. Das heißt: Ein ganzer Satz kann im Extremfall aus nur einem Wort bestehen, das sich aus einem Grundwort und verschiedenen Anhängseln zusammensetzt.

    Von den heute vielleicht 1.000 Witotos, 1.000 Boras und 200 Ocainas - um die größten Sprechergemeinschaften zu nennen - benutzen nur noch rund ein Viertel ihre Muttersprache täglich und in allen Funktionen. Die Sprachbedrohung wird durch interethnische Heiraten verstärkt, zu denen es auf Grund der reduzierten Bevölkerungsstärke kommt. Bei den Paaren mit gemischtem sprachlichem Hintergrund wird dann meist nur noch Spanisch gesprochen. Die Wissenschaftler konzentrieren sich bei ihrer Sprachdokumentation auf das Bora und das Ocaina. Dabei machen sie von jedem Haupttyp eines kommunikativen Ereignisses vollständig annotierte Videoaufnahmen in repräsentativem Umfang. In Ergänzung der eigentlichen Sprachdokumentation widmen sie sich vor allem dem Wissen über Natur und Umwelt sowie kulturspezifischen Formen der Gestik und der Analyse der für die Sprechergemeinschaften sehr speziellen "Trommel-Kommunikation", mit der Mitteilungen über eine Entfernung von bis zu 15 Meilen weitergegeben werden können. Dabei fällt auf, dass das Trommelsystem eng an das linguistische System angelehnt ist und phonologische Töne und Silbengewichte direkt in Schläge "übersetzt" werden. Insbesondere über die Spezialanalyse zur Trommel-Kommunikation erhofft sich die Wissenschaft neue Einsichten in die Verbindung von Sprachstruktur und Rhythmus.
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    Kontakt Universität Bochum:
    Sprachwissenschaftliches Institut
    Frank Seifart
    Telefon: 02 34/32 - 23910
    E-Mail: frank.seifart@mpi.nl

    Professor Dr. Nikolaus
    Himmelmann
    Telefon: 02 34/32 - 23910
    E-Mail: himmelma@linguistics.ruhr-uni-bochum.de
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    Zu 2: Zielsprache des Dokumentationsvorhabens von Dr. Dagmar Jung von der Universität Köln ist das Beaver, eine hochgradig bedrohte athabaskische Sprache Nordamerikas. Sie wird heute noch von etwa 100 bis 150 Menschen in verschiedenen weit auseinander liegenden Siedlungen in den beiden kanadischen Provinzen Alberta und British Columbia gesprochen. Wenngleich das Gebiet erst seit dem 20. Jahrhundert auch von weißen Siedlern bewohnt wird, haben mittlerweile alle Beaver ihre traditionelle Lebensweise als Jäger und Fallensteller zu Gunsten insbesondere der Landwirtschaft aufgegeben. Unter den vollkompetenten Sprechern gibt es zwar noch einige Dreißigjährige, jedoch lernt heute niemand mehr Beaver als Muttersprache, sondern Englisch.

    Die Wissenschaftlerin verfolgt den Ansatz, das Beaver über Geschichten von Orten beziehungsweise Ortsnamen zu dokumentieren. Denn vor allem bei Nomadenkulturen bilden Orte und Ortsnamen für die Menschen einen primären Bezugsrahmen sowohl für die spirituelle als auch die praktische Orientierung ihres Lebens. Bedeutungstragende Ortsnamen werden daher in ihrer reichen kontextuellen Bedeutung aufgezeichnet - ein Vorgehen, das sich besonders für die Dokumentation athabaskischer Sprachen eignet, da in den Erzählungen über einzelne Orte zusammen mit der Bedeutung einzelner Ortsnamen das kulturelle Wissen von Generation zu Generation weitergegeben wird. Eine auf diesem Weg entstehende Basisbeschreibung der Grammatik soll durch ein erstes Lexikon ergänzt werden. Die Orte werden unter Verwendung von GPS-Systemen auf der Landkarte markiert. Darüber hinaus runden ethnobotanische und ethnoökologische Informationen die lexikalischen Daten ab.
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    Kontakt Universität Köln:
    Institut für Linguistik,
    Allgemeine Sprachwissenschaft
    Dr. Dagmar Jung
    E-Mail: djung@unimelb.edu.au
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    Zu 3: Papua-Neuguinea mit seinen über 800 verschiedenen Sprachen diverser Sprachfamilien ist bekannt für seinen großen linguistischen Reichtum. Da die meisten Sprechergemeinschaften sehr klein sind, werden sie vom Englischen und/oder vom Pidgin bedroht. Dies trifft auch auf Saliba und Logea zu, zwei eng verwandte Dialekte, die auf wenigen Inseln an der Südspitze Papua-Neuguineas von rund 2.500 Menschen gesprochen werden. Sie gehören der westozeanischen Sprachenfamilie an. Im Gegensatz zu den anderen austronesischen Sprachen herrscht hier - und das ist sprachtypologisch besonders interessant - eine Objekt-Verb-Satzstellung vor, was auf einen frühen Sprachkontakt mit den nicht-austronesischen Papuasprachen schließen lässt. Da die Menschen immer noch ihr traditionelles Leben als Fischer oder Subsistenzbauern leben und die Kinder Saliba beziehungsweise Logea als Erstsprache lernen, lassen sich die Dialekte derzeit noch gut dokumentieren.

    Die deutsch-australischen Kooperationspartner - auf deutscher Seite Professorin Dr. Ulrike Mosel von der Universität Kiel - planen Audio- und Videoaufnahmen sowohl von gesprochener Sprache als auch der kulturellen Aktivitäten. Zunächst stehen Interviews mit den ältesten Sprechern auf dem Programm. Dabei geht es zum Beispiel um die Kanuherstellung, um Naturheilmittel und das Fischen, um Gartenbau und Handwerkskunst. Außerdem werden persönliche, traditionelle und geschichtliche Erzählungen aufgezeichnet. Das Besondere: Interviewer sind jüngere Einheimische, und sie stammen aus derselben Familie wie die Interviewten. Diese Gespräche werden gefilmt. Darüber hinaus dokumentieren die Forscher traditionelle kulturelle Praktiken wie Jagen und Fischen, Gartenbau, die Herstellung von Werkzeugen und deren Gebrauch. Auch nehmen sie Szenen der Konfliktmediation in der Sprechergemeinschaft und Familiengeschichten auf. Des Weiteren geht es um die Dokumentation von Herstellung und Gebrauch des traditionellen Segelkanus sowie der zugehörigen Geschichten. Erfahrene Handwerker werden beim Bau des Bootes gefilmt, sodass beispielsweise die Techniken der Holzbearbeitung oder der genauen Segelfertigung dokumentiert sind. Aufgezeichnet werden zudem mythische Erzählungen zu speziellen Örtlichkeiten der Region. Ferner sollen Pflanzennamen und Texte mit ethnobotanischer Bedeutung gesammelt und diese wiederum um Fotos und nachfolgende Interviews ergänzt werden. Ein weiterer Baustein des Projekts ist, dass der Prozess der Verschriftlichung des Saliba und Logea wissenschaftlich begleitet wird. Das Besondere des Vorhabens ist letztlich die von den Forschern gewählte Verbindung von Sprache und Kultur durch Spezialanalysen von Ethnobotanik und Schiffsbau. Denn darin spiegelt sich die Prähistorie dieses Teils Ozeaniens wider - und damit zugleich die noch im Geheimen verborgene Geschichte der austronesischen Expansion in den Pazifik.
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    Kontakt Universität Kiel:
    Seminar für Allgemeine
    und Vergleichende Sprachwissenschaft
    Professorin Dr. Ulrike Mosel
    Telefon: 04 31/8 80 - 2414
    E-Mail: umosel@linguistik.uni-kiel.de
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    Zu 4: Ziel des deutsch-amerikanischen Vorhabens um Professor Dr. Ortwin Smailus von der Universität Hamburg ist die Dokumentation des - akut bedrohten - Lowland Chontal. Gesprochen wird es in Oaxaca, einem Staat Süd-Mexikos. "Chontal" bedeutet in der Azteken-Sprache Nahuatl "Fremder". Die Azteken bezeichneten damit alle ethnischen Gruppen im alten Mesoamerika, mit denen sie sich nicht vertraut fühlten. Chontal ist linguistisch besonders interessant, da es sich um eine isolierte Sprache handelt, deren Ursprung und Abstammung bis heute nicht geklärt ist. 1990 gab es unter 15.000 ethnischen Chontals immerhin noch 900 vollkompetente Sprecher, zehn Jahre später war deren Zahl schon auf ein Fünftel gesunken. Alle Sprecher gehören der ältesten Generation an, sodass das Lowland Chontal als gesprochene Sprache - die Kinder lernen an den Schulen Lesen und Schreiben in Spanisch - innerhalb der nächsten zwei Jahrzehnte aussterben wird.

    Die Wissenschaftler wollen die Sprache dokumentieren, indem sie mythisch-historische Erzählungen sammeln. Diese Erzählungen über die Vergangenheit der Chontal werden in Interviewsitzungen audio-visuell aufgenommen und durch Rekonstruktionen von Kultur und Geschichte des Volkes ergänzt. Darüber hinaus sammeln die Forscher auch bei diesem Sprachdokumentationsprojekt lokales Wissen über zentrale "landmarks" und spezielle Örtlichkeiten. Ferner haben sie vor, die Chontal-Terminologie für die Bereiche Landwirtschaft und Umwelt aufzuzeichnen und die Beschreibung traditioneller kultureller Praktiken zu erfassen. Geplant sind außerdem ein trilinguales Lexikon Chontal/Englisch/Spanisch mit 5.000 Einträgen und eine Sketchgrammatik.
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    Kontakt Universität Hamburg:
    Archäologisches Institut
    Professor Dr. Ortwin Smailus
    Telefon: 0 40/4 28 38 - 4075
    E-Mail: ar3a005@uni-hamburg.de
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    Der Text der Presseinformation steht im Internet zur Verfügung unter http://www.volkswagenstiftung.de/presse-news/presse04/02042004.htm
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    Kontakt VolkswagenStiftung:
    Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
    Dr. Christian Jung
    Telefon: 05 11/83 81 - 380
    E-Mail: jung@volkswagenstiftung.de

    Kontakt Förderinitiative der VolkswagenStiftung:
    Dr. Vera Szöllösi-Brenig
    Telefon: 05 11/83 81 - 218
    E-Mail: szoelloesi@volkswagenstiftung.de


    Weitere Informationen:

    http://www.volkswagenstiftung.de/presse-news/presse04/02042004.htm


    Bilder

    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Geschichte / Archäologie, Gesellschaft, Medien- und Kommunikationswissenschaften, Sprache / Literatur, Tier / Land / Forst
    überregional
    Forschungsprojekte, Wissenschaftspolitik
    Deutsch


     

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