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Wissenschaft
Kinder mit Spinaler Muskelatrophie (SMA) haben einen Gendefekt, durch den ihre Muskeln an Kraft verlieren. Unbehandelt führt die Erbkrankheit meist frühzeitig zum Tod. Durch einen seit Kurzem zugelassenen Ansatz der Gentherapie lässt sich die Funktion der Muskeln weitgehend erhalten, die Datenlage zu Wirksamkeit und Sicherheit der Behandlung war jedoch begrenzt. In einer multizentrischen klinischen Studie in The Lancet Child & Adolescent Health* hat ein Team der Charité – Universitätsmedizin Berlin nun erstmals die Nebenwirkungen dieser sogenannten Genersatztherapie systematisch erfasst und gezeigt, dass sie die Muskelfunktion vor allem bei Kindern unter zwei Jahren deutlich verbessert.
Eines von 10.000 Kindern kommt in Mitteleuropa mit der neuromuskulären Erkrankung SMA zur Welt. Ursache ist ein Gendefekt, durch den bestimmten Nervenzellen im Rückenmark das Protein Survival-Motor-Neuron (SMN) fehlt. Die geschädigten Nervenzellen können Impulse aus dem Gehirn nicht an die Muskeln weiterleiten, so dass die Muskelkraft abnimmt und die Entwicklung der Bewegungsabläufe aussetzt. Auch die Atemmuskulatur wird langsam immer schwächer. Die meisten Kinder leiden unter der schwersten Form von SMA, die ohne Therapie in den ersten beiden Lebensjahren tödlich verläuft.
„Nun gibt es allerdings Hoffnung, denn seit 2020 können Kinder in der Europäischen Union mit einer Genersatztherapie behandelt werden, die die Funktion des fehlenden SMN-Proteins wiederherstellt“, erklärt Prof. Dr. Angela M. Kaindl, Direktorin der Klinik für Pädiatrie mit Schwerpunkt Neurologie und Leiterin des Sozialpädiatrischen Zentrums an der Charité. Aufgrund der Schwere der Erkrankung wurde die Therapie mit dem neuartigen Medikament Onasemnogen-Abeparvovec, das auch unter dem Handelsnamen Zolgensma bekannt ist, jedoch auf Basis einer nur geringen Datenlage zugelassen. „Die behandelnden Ärztinnen und Ärzte mussten im ersten Jahr deshalb vorsichtig Erfahrungen mit der Wirkung und den Nebenwirkungen der neuen Therapie sammeln“, erklärt Prof. Kaindl. Unter ihrer Leitung hat ein Forschungsteam in einer großen Beobachtungsstudie nun erstmals Behandlungserfolg und Nebenwirkungen der Genersatztherapie bei einer großen Gruppe von Kindern untersucht.
Die Studie bezieht 76 Kinder im Alter von sechs Monaten bis knapp fünf Jahren aus 18 Behandlungszentren in Deutschland und Österreich ein, die zwischen September 2019 und November 2020 mit der Genersatztherapie behandelt und weitere sechs Monate nachbeobachtet worden waren. Mit eingeschlossen waren auch Kinder, für die bisher nur sehr wenige Daten vorlagen: solche, die vorab eine Therapie mit dem bisher genutzten Medikament Nusinersen durchlaufen hatten, sowie größere Kinder, die älter als 24 Monate waren und bis zu 15 Kilogramm wogen. Das Studienteam erhob ihre Bewegungsfähigkeit anhand standardisierter Tests vor und nach der Behandlung und wertete die Daten im Hinblick auf Alter, Geschlecht, Erkrankungstyp und vorausgegangene Therapien aus. „Die Muskelkraft der Kinder verbesserte sich signifikant durch die Genersatztherapie – unabhängig davon, ob sie zuvor bereits mit Nusinersen therapiert worden waren. So konnten sie neue Meilensteine in ihrer Entwicklung erreichen und lernten besser, zu krabbeln, zu sitzen oder zu stehen“, sagt Prof. Kaindl. „Der positive Effekt trat besonders bei jüngeren Kinder unter 24 Monaten auf, aber auch ältere und somit meist schwerer von SMA betroffene Kinder profitieren von der Behandlung.“
Zu den häufig auftretenden Nebenwirkungen zählen Fieber, Erbrechen, ein Mangel an Blutplättchen sowie veränderte Leberwerte. „Ein besonderes Augenmerk haben wir auf mögliche Leberfunktionsstörungen gelegt, die bei sechs Kindern auftraten. In den meisten Fällen war eine verlängerte Kortisontherapie zur Verringerung der Leberentzündungsreaktion über die empfohlene Therapiedauer von acht Wochen hinaus erforderlich. Durch eine enge klinische Überwachung in einem spezialisierten Zentrum lassen sich die auftretenden Nebenwirkungen jedoch gut unter Kontrolle behalten“, erklärt Prof. Kaindl. Sie resümiert: „Die neue Genersatztherapie bietet eine effiziente und sichere Alternative zu der bisher verfügbaren Therapie mit Nusinersen – insbesondere, wenn sie frühzeitig eingesetzt wird. Ein neu eingeführter Screeningtest von Neugeborenen auf SMA wird dies zukünftig ermöglichen. Auf Basis unserer Daten konnten wir außerdem ein Nachbehandlungsschema empfehlen, das den Umgang mit den auftretenden Nebenwirkungen der Therapie erleichtert.“ Um die langfristige Wirkung der Genersatztherapie beurteilen zu können, soll die gleiche Gruppe betroffener Kinder nach einem längeren Beobachtungszeitraum erneut untersucht werden.
Zur Behandlung der SMA
Bisher konnten von SMA betroffene Kinder lediglich mit dem Medikament Nusinersen behandelt werden, das die Bildung des SMN-Proteins erhöht und in Deutschland seit 2017 zugelassen ist. Es muss in regelmäßigen Abständen unter Narkose in den Rückenmarkskanal verabreicht werden, was eine hohe Belastung für die Kinder darstellt. Die neue Alternative der Genersatztherapie hingegen schleust eine funktionsfähige Variante des defekten SMN-Gens mithilfe eines harmlosen Virus als Genfähre in die betroffenen Nervenzellen ein. Hierfür reicht eine einzige Infusion über die Blutbahn, um die Funktion der Nervenzellen im Rückenmarkszellen dauerhaft aufrechtzuerhalten.
Prof. Dr. Angela M. Kaindl
Direktorin der Klinik für Pädiatrie mit Schwerpunkt Neurologie
Leiterin des Sozialpädiatrischen Zentrums an der Charité
Charité – Universitätsmedizin Berlin
t: +49 30 450 566 301
E-Mail: angela.kaindl@charite.de
*Weiß C et al. Gene replacement therapy with onasemnogene abeparvovec in children with spinal muscular atrophy aged 24 months or younger and bodyweight up to 15 kg: an observational cohort study. Lancet Child Adolesc Health (2021), DOI: 10.1016/S2352-4642(21)00287-X
https://www.thelancet.com/journals/lanchi/article/PIIS2352-4642(21)00287-X/fullt...
https://www.charite.de/service/pressemitteilung/artikel/detail/spinale_muskelatr...
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