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11.03.2022 17:17

Allianz von Kirche und Staat in Russland fördert Akzeptanz von Putins Krieg

Viola van Melis Zentrum für Wissenschaftskommunikation
Exzellenzcluster „Religion und Politik“ an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster

    Soziologe Detlef Pollack: Identifikation mit Orthodoxie und Nationalstolz in Russland in vergangenen Jahrzehnten rasant gestiegen – Kopplung von Kirche und Staat begünstigt Unterstützung für Putin – Patriarch und Präsident geeint im Geschichtsbild und in der Ablehnung westlicher Werte – „Hochgefährliches Gefühl der Demütigung einer einstigen Großmacht“

    Die enge Allianz von Kirche und Staat in Russland fördert Forschern zufolge die Akzeptanz für Putins Regime und Krieg. „Die große Nähe von Präsident und Patriarch trifft auf eine Bevölkerung, deren Religiosität in den vergangenen Jahren rasant gewachsen ist, verbunden mit gestiegenem Nationalstolz. Gemeinsame Auftritte von Putin und Kirill I. haben daher eine hohe symbolische Kraft“, sagt der Religionssoziologe Prof. Dr. Detlef Pollack vom Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Uni Münster. Die Zahl derer, die sich mit der Orthodoxie identifizieren, stieg demnach von 1990 bis 2020 von einem Drittel auf mehr als zwei Drittel der Bevölkerung, die Zahl der Gläubigen gar von 44 auf 78 Prozent. „Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde die Kirche zum Hoffnungsträger einer gedemütigten Nation.“ Heute stütze der Patriarch Putins Krieg gegen die Ukraine, indem er „böse Mächte“ für ihn verantwortlich mache, so Pollack. „Der Angriff Russlands wird damit entpolitisiert und metaphysisch erhöht. Mit der Rechtfertigung des Krieges als Kampf gegen Gay-Pride-Paraden konstruiert Kirill ein Argument, um konservative Gläubige für einen ideologischen Kulturkampf zu gewinnen.“ Zugleich unterstütze Putin die Russisch-Orthodoxe Kirche auch finanziell. „Gemeinsam kämpfen sie gegen westliche Werte wie Demokratie und plurale Lebensformen. Sie instrumentalisieren sich gegenseitig.“

    „Der starke Anstieg der Religiosität in Russland geht nicht auf tradierte Volksreligiosität, familiäre Sozialisation oder soziale Angebote der Kirche zurück“, so der Forscher, „sondern darauf, dass die orthodoxe Kirche nach 1992 zum Träger nationaler Identität aufstieg. Seit Jahrzehnten meint eine Mehrheit, um ein wahrer Russe zu sein, müsse man orthodox sein.“ Das religiös aufgeladene Nationalbewusstsein sei alles andere als harmlos. „Die meisten Russen halten die russische Kultur gegenüber anderen für überlegen.“ Nach dem Ende der Sowjetunion sei der Nationalstolz in Russland so niedrig wie in keinem anderen ost- und ostmitteleuropäischen Land gewesen, führt Pollack aus. Inzwischen sei er rasant gestiegen. „Waren es 1992 nur 13 Prozent, die die Russen als großes Volk ansahen, dem ein spezieller Platz in der Weltgeschichte zukomme, so sind es heute 62 Prozent. Parallel nahm die Identifikation mit der Orthodoxie zu.“ Die Analysen basieren auf dem Grundlagenwerk „Religion in der Moderne. Ein internationaler Vergleich“, von dem die Religionssoziologen Prof. Dr. Detlef Pollack und Dr. Gergely Rosta soeben eine aktualisierte und erweiterte Neuauflage im Campus Verlag veröffentlicht haben. Es ist eine der umfassendsten empirischen Untersuchungen religiöser Trends weltweit.

    Gegenseitige Instrumentalisierung von Kirche und Staat

    Bestärkt wird die religiöse Renaissance in Russland durch die unübersehbare Allianz zwischen Kirche und Politik, wie Soziologe Pollack darlegt. „Die orthodoxe Kirche kommt seit Jahren in den Genuss steuerlicher Privilegien und staatlicher Gelder und wird staatlicherseits gegenüber anderen Religionsgemeinschaften bevorzugt. Immer wieder ist der Präsident neben dem Patriarchen zu sehen.“ 2007 sei ein neues Schulfach „Grundlagen der orthodoxen Kultur“ eingeführt worden, das an staatlichen Schulen für alle Schüler, unabhängig davon, ob sie der Kirche angehören, Pflichtfach sei. „Umgekehrt ist der Patriarch seit Jahren ein verlässlicher Unterstützer der politischen Linie des Kreml.“ In einer seiner jüngsten Predigten bezeichnete Kirill I. die Feinde Russlands als „Kräfte des Bösen“. Putin und Kirill teilen, wie Pollack ausführt, offenbar ein ähnliches Weltbild: Russland sei das angegriffene Opfer westlicher Mächte, der Kampf Russlands ein Kampf des Guten gegen das Böse. „Kultureller Pluralismus, Homosexualität und Meinungsvielfalt gefährden in diesem Weltbild die Identität der russischen Kultur. Russland muss sich schützen und für seine bedrohte Identität eintreten.“

    Hinter dem gemeinsamen Kampf von Präsident und Patriarch gegen westliche Werte steht dem Forscher zufolge der Versuch, Russland zu alter Größe zurückzuführen. Für Putin und Kirill sei Russland eine große, unbesiegbare Nation, wie schon der Große Vaterländische Krieg gezeigt hätte. Seit dem Ende der Sowjetunion aber sei ihre einstige Bedeutung bedroht. „Aus dem Gefühl der Bedrohung entsteht ein Bedürfnis nach kultureller Selbstbehauptung, eine hochgefährliche Mischung von Demütigungsgefühlen und Überlegenheitsansprüchen. Anstatt die Wirtschaftsleistung zu stärken, verfolgt die Regierung das Projekt einer Stärkung des Nationalbewusstseins, das die eigene Kultur überhöht und für alle Probleme im Land den Westen verantwortlich macht, der Russland angeblich nicht wertschätze“, so Pollack. Hier träfen sich die Geisteshaltungen Putins und Kirills, denn nach orthodoxer Vorstellung sei Russland ein heiliges Land, das seit der Taufe der „Kiewer Rus“ im Jahr 988 die Ukraine einschließe und durch „fremde Kulturen“ nicht entweiht werden dürfe.

    Das enge Verhältnis von Staat und Kirche hat in Russland eine lange Tradition, die bis ins mittelalterliche Byzanz zurückreicht. „Während die Katholische Kirche im lateinischen Westen zu dieser Zeit oft als Gegengewicht zum Kaisertum agierte, bildeten Patriarchat und Kaisertum in Ostrom eine enge Allianz. In der Zeit des Kommunismus, in der es Verbindungen zwischen Kirche und Geheimdienst gab, verlor die Russisch-Orthodoxe Kirche ihre Autonomie weitgehend“, erläutert der Soziologe. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion folgte nach seinen Worten aber nicht eine Aufarbeitung der Verstrickungen der orthodoxen Kirche mit dem kommunistischen Regime, sondern der schnelle Schulterschluss mit den neuen Machthabern.

    Genuin Religiöse mit eher individualistischen Werten bilden eine Minderheit

    Bei den Kirchenmitgliedern sind den Forschern zufolge auch gegenläufige Tendenzen zu beobachten: „Unter dem Mantel der Politisierung des Religiösen ist überraschenderweise auch ein Schutzraum für die Ausbreitung einer verinnerlichten Religiosität entstanden, die eher durch individualistische als durch konservative Werte charakterisiert ist“, sagt Pollack. „Besonders Frauengruppen stellen in Russland die Verzahnung von Staat und Religion in Frage.“ Auch gebe es in der jungen, gebildeten Bevölkerung eine beachtliche Offenheit für Demokratie und liberale Werte. „Ob diese Kräfte in Russland an öffentlicher Sichtbarkeit und Bedeutung gewinnen, hängt zu einem großen Teil vom weiteren Kriegsverlauf ab“, sagt Pollack.

    Im Unterschied zur Russisch-Orthodoxen Kirche haben sich alle drei orthodoxen Kirchen in der Ukraine gegen den Krieg ausgesprochen: „Neben der unabhängigen orthodoxen Kirche und der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche unter dem Kiewer Patriarchat hat sich erstaunlicherweise auch die dem Moskauer Patriarchat unterstellte orthodoxe Kirche öffentlich gegen den Krieg gestellt und ihn als ‚Bruderkrieg‘ bezeichnet“, betont der Forscher. „Aktuell ist noch nicht absehbar, ob der Unmut auch in Russland zunehmen und dies Kirills Kurs schwächen wird.“

    In der Neuauflage des Standardwerks „Religion in der Moderne. Ein internationaler Vergleich“ werten Detlef Pollack und Gergely Rosta ein so reichhaltiges Datenmaterial für mehrere Kontinente aus wie kaum eine andere Religionsstudie. Sie filtern politische, nationale und soziale Einflussfaktoren auf Religion heraus und stellen einen Bedeutungsrückgang des Religiösen in vielen modernen Gesellschaften fest. In den vergangenen zehn Jahren seien dabei dramatische Prozesse der Entkirchlichung und Säkularisierung in Ländern wie den USA, Italien, Polen und Irland zu beobachten, in denen zuvor der Glaube noch recht ausgeprägt war. Das stehe im Gegensatz zu anderen Ländern wie eben Russland, in denen sich ein religiöser Aufschwung beobachten lasse. In den kommenden Wochen folgt weiteres Pressematerial über neue zentrale Forschungsbefunde der beiden Forscher. (apo/vvm)


    Originalpublikation:

    Detlef Pollack, Gergely Rosta: Religion in der Moderne. Ein internationaler Vergleich („Religion und Moderne“, Band 1), 2., aktualisierte und erweiterte Auflage, Frankfurt am Main/New York: Campus Verlag 2022.


    Weitere Informationen:

    https://www.uni-muenster.de/Religion-und-Politik/aktuelles/2022/PM_Allianz_Kirch...


    Bilder

    Prof. Dr. Detlef Pollack
    Prof. Dr. Detlef Pollack
    Lena Giovanazzi

    Buchcover
    Buchcover

    Campus Verlag


    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten
    Geschichte / Archäologie, Politik, Religion
    überregional
    Forschungs- / Wissenstransfer, Forschungsergebnisse
    Deutsch


     

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