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02.11.2022 14:00

Brain Health 2024: Welche Fortschritte wird die Digitalisierung für Forschung und Betroffene bringen?

Dr. Bettina Albers Pressestelle der DGN
Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V.

    Viele digitale Anwendungen helfen Betroffenen mit neurologischen Erkrankungen und erheben oft gleichzeitig Daten, die wiederum der Forschung zugutekommen oder direkt in den Behandlungsalltag für die Ärztinnen und Ärzte einfließen – ein „Win-win“, wenn nicht auf zwischenmenschlichen Kontakt und persönliche Zuwendung verzichtet wird. Im Rahmen der „Brain Health“-Kampagne müssen auch Licht und Schatten der Digitalisierung diskutiert werden. So können Apps & Co. auch erfolgreich zur Prävention und Therapie eingesetzt werden. „Die Neurologie muss diesen Prozess vorantreiben und wissenschaftlich begleiten“, sagt DGN-Präsident Prof. Christian Gerloff.

    Die Neurologie ist eines der progressivsten Fächer in der Medizin – und die Entwicklung ist rasant vonstattengegangen. Die Geschwindigkeit und die Dynamik der Digitalisierung in der Neurologie eröffnen neue Chancen für Ärzte/Ärztinnen und Erkrankte. Beide Seiten können vom individualisierten und schnellen Zugang zu medizinischem Wissen sowie von frühzeitigen Interventionen und der Nutzung diagnostischer und therapeutischer Möglichkeiten profitieren. Diese Entwicklung ist gerade im Hinblick auf eine zukünftige bestmögliche Gesundheitsversorgung mit hoher Qualität und Zugänglichkeit wichtig.

    Neurologischer Forschungsfortschritt durch Digitalisierung
    Durch Big Data und künstliche Intelligenz hat die medizinische Forschung einen Innovationsschub erfahren. Die Digitalisierung ist Grundvoraussetzung dafür und Wegbereiter für zielgerichtete Therapieansätze und Präzisionsmedizin, dank ihrer können Pathomechanismen der Krankheitsentstehung wie z.B. krankheitsauslösende Genmutationen schneller erkannt, genetische Subtypen von Erkrankungen identifiziert oder neue Risikofaktoren entdeckt werden.

    Ein aktuelles Beispiel ist die Forschung zur Amyotrophen Lateralsklerose (ALS). Dort wird maschinelles Lernen eingesetzt, um die genetische Architektur der Erkrankung zu erforschen. In den meisten Algorithmen des maschinellen Lernens werden genomische Daten zusammen mit anderen Informationen ausgewertet, z.B. den Interaktionen zwischen Proteinen, epigenetische Daten oder bekannte ALS-Phänotyp-Genotyp-Assoziationen. In einer aktuellen Arbeit [1] wird hervorgehoben, wie bedeutsam auch die Implementierung von Gen-zu-Gen-Interaktionen und cis-regulatorischer Elemente, das sind nicht-kodierende Bereich des Erbguts, in das maschinelle Lernen sind. Die Hoffnung ist, dass solche „verfeinerten“ Modelle des maschinellen Lernens über die molekularen Mechanismen und Signalwege der Krankheitsentstehung Aufschluss geben und zur Entwicklung kausaler Therapien beitragen.

    Digitalisierung in der neurologischen Versorgung
    Die Digitalisierung hat auch die Versorgung maßgeblich verbessert, u.a. die Akutversorgung von Patientinnen und Patienten im Krankenhaus. Beispielsweise wurde in einigen Kliniken bereits ein „Closed Loop Medication“-Management implementiert, das den Medikationsprozess durch Digitalisierung und Robotik optimiert, von der Verordnung bis zur Verabreichung der Medikamente kontrolliert und so zur höheren Effizienz und Sicherheit beiträgt. Idealerweise ist ein Closed-Loop-Medication-System Teil eines umfassenden digitalen Klinikinformationssystems, auch KIS genannt. Schon jetzt kann ein KIS Millionen Datenpunkte pro Patient erfassen, von klinischen Befunden bis zu Vitaldaten wie Blutdruck oder Herzfrequenz, die direkt aus Überwachungsmonitoren eingelesen werden. Solche Systeme haben auch das Potenzial, auf Basis des maschinellen Lernens Komplikationen bei schwerkranken Patientinnen und Patienten frühzeitig zu erkennen und entsprechende Warnsignale zu geben. Prof. Gerloff verwies in diesem Zusammenhang auf eine kürzlich publizierte Arbeit aus der internationalen Zeitschrift „Brain“ [2], in der ein auf maschinelles Lernen basiertes System vorgestellt wird, das Hirndruckkrisen bei Neurointensivpatientinnen/-patienten vorhersagen kann. Dafür lernte das System aus mehreren Millionen Datenpunkten von 1.346 Patientinnen und Patienten, anschließend wurde es anhand von Daten aus externen Datenbanken evaluiert. „Die Ergebnisse sind sehr ermutigend, das System erwies sich als effizient, solche Ansätze werden als Assistenzsysteme zunehmend Eingang in die klinische Praxis finden“, erklärte Prof. Gerloff.

    Ebenso führt die Digitalisierung auch zu Fortschritten in der neurologischen Nachsorge und Versorgung von Patientinnen und Patienten mit chronischen neurologischen Krankheiten. Telemedizinische Angebote und Apps bieten Patientinnen und Patienten Unterstützung, in ländlichen Regionen können sie auch helfen, Versorgungslücken zu schließen. Auch in der Corona-Pandemie haben sich digitale Angebote als hilfreich erwiesen, bei vielen Betroffenen mit chronischen neurologischen Erkrankungen, sei es Parkinson, Epilepsie oder Multiple Sklerose, konnten die medizinische Versorgung und regelmäßige Arztkonsultationen, die für diese Menschen extrem wichtig sind, aufrechterhalten werden. Digitalisierung bringt Fortschritt, wenn sie klug eingesetzt wird. Krankentagebücher, Medikamenteneinnahme-Apps und Bewegungs-Apps können gleichermaßen den Betroffenen helfen wie die Forschung und den Versorgungsalltag stärken.

    Auf der Neurowoche werden Daten zu verschiedenen Apps und digitalen Anwendungen vorgestellt.
    - Die BRISA-App hilft MS-Patientinnen und -Patienten, ihre Symptome und somit den Krankheitsverlauf zu dokumentieren – und anhand der Daten können auch neue wissenschaftliche Erkenntnisse aus „Real-Life“-Daten generiert werden. Beispielsweise zeigte sich, dass gerade Fatigue, kognitive Störungen und Kribbelparästhesien eine hohe Bedeutung für die MS-Patientinnen und -Patienten haben, und zwar besonders ausgeprägt bei der schubförmig remittierenden MS (RRMS) [3].

    - Auch gibt es eine interessante Übersicht zur Evidenz digitaler Anwendungen in der Schlaganfall-Nachsorge [4]. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass Beeinträchtigungen und Risikofaktoren durch digitale Anwendungen positiv beeinflusst werden.

    - Eine weitere Arbeit [5] berichtet über die Etablierung eines Patienten- und Patientinnen-zentrierten Co-Kreationsansatzes und eines Kollaborationsmodells zwischen Patientenvertretungen, Ärzten und Ärztinnen und industriellen Partnern zur Umsetzung einer nachhaltigen und neutralen telemedizinischen Versorgungsplattform für die spinale Muskelatrophie (SMA).

    - Des Weiteren wird ein Projekt zu algorithmusbasierten Empfehlungen als Entscheidungsunterstützungssystem bei der Hilfsmittelversorgung der ALS [6] vorgestellt. Der Versorgungsalgorithmus erhält die Daten aus der ALS-Funktionsskala, die über eine mobile Anwendung (ALS-App) erhoben werden.

    „Diese digitalen Anwendungen helfen Betroffenen, erheben aber oft auch Daten, die wiederum der Forschung zugutekommen oder auch direkt in den Behandlungsalltag einfließen – ein ‚Win-win‘“, erklärte Prof. Dr. Christian Gerloff, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Neurologie, auf der Pressekonferenz der Neurowoche 2022.

    Die Digitalisierung kann als Assistenzsystem und Werkzeug helfen, Qualität und Verfügbarkeit medizinischer Maßnahmen zu verbessern. Keinesfalls darf aber die Digitalisierung zu einer entmenschlichten „Maschinenmedizin“ führen – und in diesem Spannungsfeld zwischen Digitalisierung, persönlicher Zuwendung und auch Datenschutz muss sich die Medizin, also auch die Neurologie, positionieren. „Dieses Spannungsfeld haben wir gestern in der Eröffnungsveranstaltung der Neurowoche zusammen mit Sascha Lobo beleuchtet, gerade auch unter dem Gesichtspunkt, wo die Risiken und die Chancen liegen. Die Chancen bewerten wir als sehr viel größer, aber der Prozess muss von uns Neurologinnen und Neurologen eng begleitet und mitgestaltet werden“, sagte der DGN-Präsident. Wichtig sei, dass der persönliche Kontakt zwischen Ärztin/Arzt und Betroffenen immer die Basis bildet, die digitalen Anwendungen Begegnungen und das persönliche Gespräch nicht ersetzen, sondern die Therapie unterstützen.

    Digitalisierung und Brain Health
    Relativ neu ist die Frage, was die zunehmende Digitalisierung der Gesellschaft ganz generell mit unserer Hirngesundheit macht – und auch hier habe die Medaille nicht nur eine Seite. „Wir wissen, dass lange Bildschirmzeiten ungünstige Effekte auf die Hirngesundheit haben, insbesondere, wenn damit soziale Isolation, d. h. fehlender direkter Austausch mit Menschen, einhergeht. Diese Menschen leiden oft an Schlafstörungen, was auch die Kognitionsleistung beeinträchtigen kann. Umgekehrt zeigen Studien aber auch positive Effekte der Digitalisierung – und die sollten wir gezielt nutzen.“

    Beispielsweise geht ein Überblicksartikel darauf ein, dass das Erlernen der Internetsuche bei älteren Menschen das kortikale Netzwerk stärkt, insbesondere die Bereiche des Arbeitsgedächtnisses [7] – und auch Videospiele können u. U. motorische und kognitive Fähigkeiten verbessern. Eine aktuelle randomisierte Studie [8] untersuchte den Effekt eines „Mobilisierungsprogramms“ bei älteren, demenzgefährdeten Menschen aus Belgien, Kanada und der Schweiz. Dieses Programm umfasste ein körperliches Training sowie den Zugang zu Videospielen zum Kognitionstraining und zu moderierten Chatrooms für den sozialen Austausch. Es zeigte sich, dass die Teilnehmenden im Hinblick auf ihre kognitiven Fähigkeiten von dem Programm profitierten.

    „Wie so oft in der Medizin ist alles eine Frage der richtigen Dosis und des gezielten Einsatzes“, erklärt Prof. Gerloff. „Digitale Medien zu verteufeln, ist nicht zielführend. Stattdessen sollten wir uns überlegen, wie wir sie zum Wohle der Hirngesundheit und der Lebensqualität weiter einsetzen können. Digitalisierung und Brain Health sind keine Gegensätze. Die Neurologie muss den Prozess aber wissenschaftlich begleiten.“

    Prof. Gerloff verwies auf vielversprechende Ansätze, bei denen Gamifizierung zur Therapie eingesetzt wird. Mittlerweile gibt es sogenannte Digital Therapeutics für Demenzkranke, also Computeranwendungen speziell zur Stimulation der Kognition. „Auch die Prävention wird sich in Zukunft digitalisieren.“

    Digitalisierung in der Fort-/Weiterbildung und Mitgliederkommunikation: DGN One
    In der Digitalisierung liegen auch große Chancen für medizinische Fachgesellschaften. Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie hat seit gestern für ihre Mitglieder ein neues Digitalangebot: Von Leitlinien und Lernvideos bis zu News und Neurologie-Events – mit der neuen App „DGN One“ bündelt sie alle wichtigen Informationen für ihre Mitglieder digital an einem Ort. Die App wurde gestern auf der Eröffnungsveranstaltung der Neurowoche vorgestellt. „DGN One“ ist über die Stores von Google und Apple sowie auch über jeden Browser auf dgn.org erreichbar und löst die bisherige DGN-Website ab. „Ich bin sehr stolz, die DGN in meiner Präsidentschaft in diese neue Ära der Digitalisierung begleiten zu können“, erklärte Prof. Gerloff abschließend.

    Literatur
    [1] Vasilopoulou C, Morris AP, Giannakopoulos G, Duguez S, Duddy W. What Can Machine Learning Approaches in Genomics Tell Us about the Molecular Basis of Amyotrophic Lateral Sclerosis? J Pers Med. 2020 Nov 26;10(4):247. doi: 10.3390/jpm10040247. PMID: 33256133; PMCID: PMC7712791.

    [2] Schweingruber N, Mader MMD, Wiehe A, Röder F, Göttsche J, Kluge S, Westphal M, Czorlich P, Gerloff C. A recurrent machine learning model predicts intracranial hypertension in neurointensive care patients. Brain. 2022 Aug 27;145(8):2910-2919. doi: 10.1093/brain/awab453. PMID: 35139181; PMCID: PMC9486888.

    [3] Preetha Balakrishnan et al. Demographic patterns of MS patients using BRISA – an MS specific app in Germany. Neurowoche 2022. Abstract 484

    [4] Richard Schmidt et al. Evidenz digitaler Anwendungen in der Schlaganfallnachsorge – eine Übersicht. Neurowoche 2022. Abstract 202

    [5] Hannes Hudalla, Andreas Ziegler et al. Co-Creation is key to success – der digitale SMA-Companion Carisma als Beispiel für eine neutrale, digitale Versorgungsplattform für Menschen mit seltenen Erkrankungen. Neurowoche 2022. Abstract 815

    [6] Christoph Münch et al. Algorithmus-basierte Empfehlungen als Entscheidungsunterstützungssystem
    bei der Hilfsmittelversorgung der ALS. Neurowoche 2022. Abstract 432

    [7] Small GW et al. Brain health consequences of digital technology use. Dialogues Clin Neurosci 2020 Jun; 22 (2):179-187. doi: 10.31887/DCNS.2020.22.2/gsmall

    [8] Belleville S et al. Pre-frail older adults show improved cognition with StayFitLonger computerized home-based training: a randomized controlled trial. Geroscience. 2022 Oct 21:1–12. doi: 10.1007/s11357-022-00674-5

    Pressekontakt
    Pressestelle der Deutschen Gesellschaft für Neurologie
    c/o Dr. Bettina Albers, albersconcept, Jakobstraße 38, 99423 Weimar
    Tel.: +49 (0)36 43 77 64 23
    Pressesprecher: Prof. Dr. med. Hans-Christoph Diener, Essen
    E-Mail: presse@dgn.org

    Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V. (DGN)
    sieht sich als wissenschaftliche Fachgesellschaft in der gesellschaftlichen Verantwortung, mit ihren über 11.700 Mitgliedern die neurologische Krankenversorgung in Deutschland zu sichern und zu verbessern. Dafür fördert die DGN Wissenschaft und Forschung sowie Lehre, Fort- und Weiterbildung in der Neurologie. Sie beteiligt sich an der gesundheitspolitischen Diskussion. Die DGN wurde im Jahr 1907 in Dresden gegründet. Sitz der Geschäftsstelle ist Berlin. www.dgn.org

    Präsident: Prof. Dr. med. Christian Gerloff
    Stellvertretender Präsident: Prof. Dr. Lars Timmermann
    Past-Präsidentin: Prof. Dr. med. Christine Klein
    Generalsekretär: Prof. Dr. Peter Berlit
    Geschäftsführer: David Friedrich-Schmidt
    Geschäftsstelle: Reinhardtstr. 27 C, 10117 Berlin, Tel.: +49 (0)30 531437930, E-Mail: info@dgn.org


    Weitere Informationen:

    http://www.neuro-woche.org


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten
    Ernährung / Gesundheit / Pflege, Medizin
    überregional
    Forschungs- / Wissenstransfer, Wissenschaftliche Tagungen
    Deutsch


     

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