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30.03.2023 17:19

Interview zur polizeilichen Kriminalstatistik 2022: "Zurück zum normalen"

Kathrin Markus Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Northern Business School

    Am heutigen Tag wurde von Bundesinnenministerin Nancy Faser (SPD) und dem Präsidenten des Bundeskriminalamtes (BKA), Holger Münch, die Polizeiliche Kriminalstatistik für 2022 veröffentlicht. Die Presseabteilung der NBS Northern Business School interviewte aus diesem Anlass Prof. Dr. André Schulz, Professur für Kriminalwissenschaften an der NBS Northern Business School in Hamburg.

    NBS: Herr Professor Schulz, heute hat die Bundesinnenministerin in Berlin die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) für das Jahr 2022 offiziell vorgestellt. Wie kommt es, dass einzelne Medien bereits am vergangenen Wochenende über einzelne Inhalte der Statistik berichten konnten?

    Schulz: Das hat leider Tradition. Auch, dass darüber immer am Sonntag vor dem eigentlichen Veröffentlichungstermin berichtet wird. Man sucht sich dabei genau die Zahlen aus, die man möglichst skandalieren kann. Die erforderliche Einordnung der Zahlen unterbleibt selbstverständlich, das verkauft sich halt nicht so gut. In den Sonntagsausgaben ist Platz, man hat eine hohe Aufmerksamkeit und gute Verkaufs- bzw. Klick-Zahlen. Innerhalb der Medienlandschaft beginnt jedes Jahr, sowohl im Bund als auch den Ländern, ein Wettlauf darum, vorab an die Zahlen der Kriminalstatistik zu gelangen. Hier zahlen sich dann die Quellen sogenannter "investigativer Journalisten" aus, die das Material an diese weiterreichen. Das Investigative beschränkt sich leider tatsächlich auf die konspirative Quellenpflege und nicht etwa auf journalistische Leistungen. Die Vertreter der Springer-Presse sind hier – im negativen Sinne – immer weit vorne, andere schreiben dann nur stumpf von ihnen ab. Die Quellen sitzen oft im Bundesinnenministerium selbst oder es sind nicht selten Polizeigewerkschafter, die die neuen Zahlen dann auch gleich – trotz fehlender Expertise – kommentieren und für ihre Zwecke missbrauchen dürfen. Mediale Aufmerksamkeit ist für die Gewerkschaftsfunktionäre wichtig im Kampf um Mitglieder und um die Deutungshoheit. Als Gegenleistung wird dann auch mal über ein Thema berichtet, das man in der Redaktion sonst nicht durchgewunken hätte. Eine Hand wäscht die andere. Ein gutes – allerdings schmutziges – Geschäft auf beiden Seiten und gesellschaftlich äußerst kontraproduktiv.

    NBS: Die von den Medien kolportierten Zahlen sorgen ja durchaus für Verunsicherung. So ist die Gesamtstraftatenzahl im Vergleich zu 2021 um 11,5 Prozent gestiegen, auch die Gewaltkriminalität hat zugenommen, zudem gibt es mehr junge Täter und Täterinnen. Wie bewerten Sie die Zahlen der PKS?

    Schulz: Grundsätzlich ist die Aussagekraft der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) recht begrenzt. Mit der PKS wird lediglich das sogenannte Hellfeld erfasst, also jene Straftaten, die entweder bei der Polizei angezeigt wurden oder der Polizei durch eigene Ermittlungen bekannt geworden sind. Darüber hinaus gibt es das sogenannte Dunkelfeld, das sind die Straftaten, die der Polizei nicht bekannt geworden sind. Um dieses Dunkelfeld aufzuhellen, bedarf es der Dunkelfeldforschung. Allein mit der PKS lassen sich also nur sehr eingeschränkt Aussagen zur echten Kriminalitätslage und der Entwicklung von Kriminalität vornehmen. Auch das BKA schreibt richtigerweise, dass die Polizeiliche Kriminalstatistik kein getreues Spiegelbild der Kriminalitätswirklichkeit ist, sondern eine je nach Deliktsart mehr oder weniger starke Annäherung an die Realität.

    Die Zahlen der PKS müssen immer im Kontext bewertet werden und bieten viel Raum für Interpretationen. Wir verzeichnen seit Jahren ein Sinken der Gesamtstraftatenzahl. Man muss die Kriminalitätsentwicklung stets über einen längeren Zeitraum, mindestens über 10 Jahre, betrachten. Aussagen im Vergleich zum Vorjahr kann man zwar mathematisch treffen, kriminologisch ergibt es aber nur wenig Sinn. Berücksichtigen wir zudem, dass wir die "Corona-Jahre" 2020 und 2021 für einen Vergleich größtenteils ausblenden müssen. So stellt man fest, dass die Kriminalität mit Blick auf 2019 nur um 3,5 Prozent gestiegen ist.

    Die größte Steigerung verzeichnen wir bei Straftaten gegen das Aufenthalts-, das Asyl und das Freizügigkeitsgesetz und bei der Wirtschaftskriminalität. Auch die Gewaltkriminalität, Taschen- und Ladendiebstähle haben deutlich zugenommen. Hier erleben wir mit den wieder steigenden zwischenmenschlichen Kontakten ein "zurück zum normalen". Die Fallzahlen bei Diebstahlsdelikten liegen aber beispielsweise noch unter denen von 2019.

    Als Hauptgründe für die um 20,1 Prozent gestiegenen Fallzahlen im Bereich der Vergewaltigung, der sexuellen Nötigung und der sexuellen Übergriffe sehen Experten eine höhere Anzeigebereitschaft, gerade wegen der "MeToo"-Debatte und der Aufarbeitung von Missbrauchsskandalen. Studien haben gezeigt, dass aus verschiedenen Gründen nur rund ein Prozent der entsprechenden Taten angezeigt werden. Die Gesellschaft ist also sensibler geworden und zeigt Taten öfter an. Hier erleben wir eine Verschiebung vom Dunkelfeld ins Hellfeld. Die Entwicklung bei der Gewaltkriminalität muss man beobachten und analysieren, was genau die Gründe dafür sind. Auch in diesem Bereich hatten wir in den letzten Jahren sinkende Fallzahlen und gehen davon aus, dass die Anzeigebereitschaft gestiegen ist, weil die Gesellschaft sensibler geworden ist und Gewalt in jeder Form ächtet.

    Beim Deliktsbereich Wirtschaftskriminalität handelt es sich zum größten Teil um sogenannte Kontrollkriminalität, das heißt, die Sicherheitsbehörden müssen selbst aktiv in diesem Bereich ermitteln, um Verstöße aufzudecken. Die Zahl der Delikte hängt also stark von der Kontrollaktivität der Behörden ab. Die jetzige Steigerung um 42,6 Prozent lässt sich auf ein in Schleswig-Holstein geführtes Großverfahren im Zusammenhang mit einer Online-Dating-Plattform mit fast 34.000 Einzelfällen zurückführen. Ohne dieses Verfahren hätten wir in der Statistik im Bereich der Wirtschaftskriminalität einen Rückgang von über 20 Prozent zu verzeichnen gehabt.

    NBS: Bei den Tatverdächtigen hat der Anteil der Kinder und Jugendlichen deutlich zugenommen.

    Schulz: Die Zahl der Straftaten durch Kinder und Jugendliche, das belegen die Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik, waren seit Jahrzehnten rückläufig bzw. stagnierten. Die Polizei Hamburg hat beispielsweise unlängst bei der Veröffentlichung der Kriminalstatistik für 2022 festgestellt, dass die Anzahl der Tatverdächtigen unter 21 Jahre im 10-Jahres-Vergleich um sechs Prozent zurückgegangen ist. Dieser langfristige Rückgang der Jugendkriminalität ist gerade deshalb bemerkenswert, da die Anzahl der unter 21-jährigen in der Hamburger Bevölkerung in den letzten zehn Jahren um 14 Prozent gestiegen ist. Auf der Basis kriminologischer Dunkelfeldforschung weiß man, dass die überwiegende Mehrheit der Menschen, über 90 Prozent, in ihrer Kindheit oder Jugendzeit zumindest einmal im strafrechtlichen Sinne auffällig werden. Allerdings kommt nur ein kleiner Teil der Betroffenen deshalb mit der Polizei in Berührung. Ein Großteil der Menschen gibt derartige Verhaltensweisen spätestens mit dem Übergang in das Erwachsenenalter wieder auf und das, obwohl die Taten nicht entdeckt oder gar sanktioniert wurden. Kriminelles Verhalten ist im Altersverlauf normal. Kindertypische Delinquenz beläuft sich in den meisten Fällen auf sogenannte Bagatelldelikte, wie Sachbeschädigung, Ladendiebstahl, Körperverletzung oder Brandstiftung. Auf Bundesebene wurde bei Kindern und Jugendlichen als Tatverdächtige nun das Niveau von 2019 übertroffen. Das liegt zum einen daran, dass es bei dieser Personengruppe einen "Nachholbedarf" nach Corona gab, das heißt es gibt keine Einschränkungen mehr bei den sozialen Kontakten, was mehr Tatgelegenheiten schafft. Zum anderen zählt jedes Kleinkind auf dem Arm der Mutter bei einem Grenzübertritt ohne Visum als tatverdächtig. Nicht vergessen als Erklärung dürfen wir zudem, dass wirtschaftliche Aspekte dafür eine Rolle spielen können. Die Fälle muss man sich nun im Einzelnen ansehen und analysieren.

    NBS: Besonders besorgniserregend wirken die Entwicklungen bei der Verbreitung pornografischer und kinderpornografischer Schriften.

    Schulz: Auch hier kennen wir naturgemäß nur einen kleinen Teil der tatsächlichen Delikte. Ein erheblicher Teil der Fälle wird in den USA bekannt und dann an die hiesige Polizei übermittelt. Die Entwicklung lässt sich dementsprechend nur schwer vorhersagen. Des Weiteren ist zu beobachten, dass vor allem Kinder und Jugendliche ohne Kenntnis eines strafrechtlichen Hintergrundes kinder- und jugendpornografische Bilder in Gruppenchats auf den bekannten Plattformen teilen oder Nacktbilder von sich versenden, die dann leider oftmals auch irgendwie öffentlich werden. Der Anteil der Tatverdächtigen unter 18 Jahren beträgt hier 41,1 Prozent. Es macht sich in diesem Bereich deutlich, dass jungen Menschen schlicht das Risikobewusstsein und die notwendige Medienkompetenz fehlen. Zudem gab es vom Gesetzgeber eine recht missglückte Reform des § 184b StPO. Auch besorgte Eltern oder Lehrer und Lehrerinnen, die entsprechendes Bild- oder Videomaterial bei ihren Kindern oder in Chats finden und dann speichern oder an die Polizei weiterleiten, machen sich strafbar. Hier ist in absehbarer Zeit mit einer erneuten Gesetzesänderung zu rechnen.

    NBS: Auch die Fälle der Messerangriffe sind in 2021 gestiegen.

    Schulz: Das BKA hat erst Anfang 2020 mit der Erfassung der Messerangriffe angefangen. Grund hierfür war hauptsächlich medialer Druck. Grundsätzlich ist die kriminalistisch-kriminologische Erkenntnis aus dieser Erhebung nämlich recht dürftig, denn was will man als Konsequenz ableiten? Menschen verletzen oder töten sogar andere Menschen mit Messern. Das ist ausgesprochen traurig, bedauerlich und zudem verboten. Das weiß aber auch jeder. Will man mit dem Wissen um eventuell steigende Zahlen zukünftig den Kauf von Küchenmessern verbieten? Auch die Erfahrungen mit Waffenverbotszonen sind überwiegend ernüchternd. Nach der Definition des BKA muss der Angriff mit einem Messer unmittelbar gegen eine Person angedroht oder ausgeführt werden, das bloße Mitführen reicht nicht aus. Für das Jahr 2021 konnte diese Art der Gewalt erstmals vom BKA ausgewiesen werden. In diesem Jahr konnten somit erstmalig bundesweit valide Daten präsentiert werden. Mit diesen Zahlen kann man aber erstmal wenig anfangen, weil man Entwicklungen kriminologisch frühestens nach einem längeren Erhebungszeitraum seriös analysieren und bewerten kann. Alles, was sie derzeit dazu lesen, ist schlicht tendenziös, populistisch und frei von Expertise.

    Die NBS Northern Business School – University of Applied Sciences ist eine staatlich anerkannte Hochschule, die Vollzeit-Studiengänge sowie berufs- und ausbildungs-begleitende Studiengänge in Hamburg anbietet. Zum derzeitigen Studienangebot gehören die Studiengänge Betriebswirtschaft (B.A.), Sicherheitsmanagement (B.A.), Soziale Arbeit (B.A.), Real Estate Management (M.Sc.) und Controlling & Finance (M.Sc.).

    Ihre Ansprechpartnerin für die Pressearbeit an der Northern Business School ist Kathrin Markus, B.A. (markus@nbs.de). Sie finden den Pressedienst der NBS mit allen Fachthemen, die unsere Wissenschaftler abdecken, unter www.nbs.de/die-nbs/presse/pressedienst.


    Wissenschaftliche Ansprechpartner:

    Prof. Dr. André Schulz, schulz@nbs.de


    Originalpublikation:

    https://www.nbs.de/die-nbs/aktuelles/news/details/news/interview-zur-polizeilich...


    Bilder

    Prof. Dr. Schulz ist Professor für Kriminalwissenschaften an der Northern Business School in Hamburg
    Prof. Dr. Schulz ist Professor für Kriminalwissenschaften an der Northern Business School in Hamburg


    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten, Wirtschaftsvertreter, Wissenschaftler, jedermann
    fachunabhängig
    überregional
    Buntes aus der Wissenschaft, Wissenschaftliche Publikationen
    Deutsch


     

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