idw – Informationsdienst Wissenschaft

Nachrichten, Termine, Experten

Grafik: idw-Logo
Grafik: idw-Logo

idw - Informationsdienst
Wissenschaft

Science Video Project
idw-Abo

idw-News App:

AppStore

Google Play Store



Instanz:
Teilen: 
13.04.2023 20:24

Braunbären in der Winterruhe liefern Hinweise auf Schutzmechanismus gegen Thrombose

Philipp Kressirer Kommunikation und Medien
Klinikum der Universität München

    Braunbären entwickeln in der Winterruhe trotz wochenlanger Schlafphasen keine Thrombose. Eine zentrale Rolle dabei spielt das Protein hsp47. Diese Erkenntnis soll nun bei der Entwicklung neuer Therapien für immobilisierte Akutpatienten helfen. Besonders interessant ist, dass es sich hierbei um einen artenübergreifend konservierten Mechanismus bei Säugetieren handelt, da dieser auch bei Schweinen und Mäusen zu finden ist. Die internationale Studie unter Leitung von Kardiologen des LMU Klinikums in Zusammenarbeit mit Forschenden aus Schweden, Dänemark, Norwegen und England ist im Wissenschaftsmagazin Science veröffentlicht worden.

    Wenn Menschen wochenlang bettlägerig sind, wächst das Risiko eines Blutgerinnsels, das in einer Vene entsteht, durch den Kreislauf wandert und ein Blutgefäß in den Lungen verstopft. Immobilität ist tatsächlich einer der größten Risikofaktoren für eine solche venöse Thromboembolie mit ihren lebensgefährlichen Folgen. Warum aber können Braunbären im Winter monatelang nahezu regungslos schlafen, ohne annähernd in die Gefahr dieser Erkrankung zu kommen? Und warum haben querschnittsgelähmte Patienten nach der Akutphase der Verletzung kein erhöhtes Thromboserisiko? Antworten auf das Paradox hat ein internationales Team von Forschenden unter Federführung von Privat-Dozent Dr. Tobias Petzold aus der Medizinischen Klinik I (Direktor: Prof. Dr. Steffen Massberg) des LMU Klinikums gefunden. Des Rätsels Lösung: Braunbären wie auch Querschnittsgelähmte nutzen einen Mechanismus, der die Interaktionen zwischen Blutplättchen und Immunzellen reduziert und somit die Entstehung von Blutgerinnseln verhindert. Die Entdeckung ist weitreichend und könnte neue Therapiemöglichkeiten eröffnen, wie auch das hoch-renommierte Wissenschaftsmagazin Science fand, das die Studienergebnisse jetzt veröffentlichte.

    Für die Herz- und Kreislaufspezialisten des LMU Klinikums um Tobias Petzold begann dieses Forschungsprojekt mit zwei Reisen nach Mittelschweden – eine im Sommer, eine im Winter. Dort wird eine ganze Schar von Braunbären seit mehr als zehn Jahren wissenschaftlich untersucht, unter anderem vom dänischen Kardiologen Prof. Dr. Ole Frobert vom Universitätskrankenhaus im schwedischen Örebro, der seinen Münchner Kollegen das neue Kooperationsprojekt vorschlug.

    Die Braunbären tragen GPS-Sender, die ihren Aufenthaltsort markieren, und wurden für eine Blutentnahme sediert und sofort wieder in die Freiheit entlassen. In einem mobilen Labor analysierten Kardiologe Petzold und seine Kollegen die Proben binnen drei bis vier Stunden. Die Frage: Unterscheidet sich das Gerinnungssystem der Braunbären im Winterschlaf und in der Aktivität des Sommers? Das sogenannte plasmatische Gerinnungssystem spielt normalerweise bei der Entwicklung venöser Thrombosen eine entscheidende Rolle. „Doch da haben wir keinen dramatischen relevanten Unterschied gefunden“, sagt Kardiologin Dr. Manuela Thienel, Co-Erstautorin der Studie.

    Einen Teil der Blutproben nahmen die Forschenden nach München mit, wo sie in ihren Laboren die Blutplättchen genauer unter die Lupe nahmen. Dabei stellte sich heraus: Im winterschlafenden Braunbärenkörper „wird die Interaktion zwischen den Blutplättchen und Entzündungszellen des Immunsystems gebremst“, wie der Kardiologe Petzold sagt, „das erklärt das Ausbleiben der venösen Thrombose.“ Genau die gleichen Mechanismen wiesen die Wissenschaftler dann bei querschnittsgelähmten Patienten nach – und bei gesunden Probanden, die sich im Rahmen eines Versuchs der europäisch-deutschen und amerikanischen Raumfahrtbehörden (DLR und NASA) drei Wochen lang buchstäblich ins Bett legen.

    Um dem molekularen Mechanismus hinter dem schützenden Prozess auf die Spur zu kommen, holten sich die Mediziner die Expertise von Prof. Dr. Matthias Mann und Dr. Johannes Müller-Reif, ebenso Erstautor der Studie, vom Max-Planck-Institut für Biochemie in Martinsried. Mittels sogenannter Massenspektroskopie-basierter Proteomik wurden fast 2.700 aktive Proteine in den Blutplättchen der Bären quantifiziert. Entscheidend dabei: In Winterruhe wurden gegenüber der Sommeraktivität 71 Proteine hoch- und 80 herunterreguliert. Johannes Müller-Reif: „Das Blutplättchen-Protein mit dem größten Unterschied zwischen überwinternden und aktiven Bären war das Hitzeschockprotein 47, das in den überwinternden Bären um das 55-fache herunterreguliert war.“ Insbesondere konnten die Forscher zeigen, dass die Herabregulation dieses HSP47 unter Langzeit-Immobilisation in verschiedenen Säugetierarten (Mensch, Braunbär und Schwein) passiert und somit ein evolutionär konservierter Mechanismus zur Thromboseprävention ist.

    Durch geringe HSP47-Proteinlevel reduziert sich die Interaktion von Blutplättchen und Entzündungszellen. Tatsächlich, so Tobias Petzold, „ist HSP47 allein in der Lage, die Entzündungszellen zu aktivieren.“ Im biomedizinischen Umkehrschluss bedeutet das: Könnte man das HSP47 mit einem passenden Molekül bei immobilisierten Akutpatienten blockieren, ließe sich womöglich die Gefahr einer venösen Thrombose verhindern. Zwar gibt es für Laborexperimente bereits sogenannte kleine Moleküle, die HSP47 ausschalten. Doch für einen möglichen Einsatz am Menschen eignen sie sich nicht. „Deshalb“, sagt Tobias Petzold, „wollen wir jetzt selbst nach entsprechend geeigneten Substanzen suchen.“


    Wissenschaftliche Ansprechpartner:

    PD Dr. med. Tobias Petzold
    Medizinische Klinik und Poliklinik I
    LMU Klinikum München
    Campus Großhadern
    Tel: +49 89 4400- 712624
    E-Mail: tobias.petzold@med.uni-muenchen.de


    Originalpublikation:

    „Immobility-associated thromboprotection is conserved across mammalian species from bear to human“, Science, Vol. 380, Issue 6641
    doi/10.1126/science.abo5044


    Weitere Informationen:

    http://www.lmu-klinikum.de


    Bilder

    v.l.n.r. Dr. Petzold, Dr. Thienel (beide LMU Klinikum), Dr. Müller-Reif (MPI Biochemie)
    v.l.n.r. Dr. Petzold, Dr. Thienel (beide LMU Klinikum), Dr. Müller-Reif (MPI Biochemie)
    Andreas Steeger
    LMU Klinikum Pressestelle

    Blutabnahme bei Braunbär
    Blutabnahme bei Braunbär

    Dr. Tobias Petzold


    Anhang
    attachment icon PM English Version

    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten, Wissenschaftler
    Biologie, Medizin
    überregional
    Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
    Deutsch


     

    Hilfe

    Die Suche / Erweiterte Suche im idw-Archiv
    Verknüpfungen

    Sie können Suchbegriffe mit und, oder und / oder nicht verknüpfen, z. B. Philo nicht logie.

    Klammern

    Verknüpfungen können Sie mit Klammern voneinander trennen, z. B. (Philo nicht logie) oder (Psycho und logie).

    Wortgruppen

    Zusammenhängende Worte werden als Wortgruppe gesucht, wenn Sie sie in Anführungsstriche setzen, z. B. „Bundesrepublik Deutschland“.

    Auswahlkriterien

    Die Erweiterte Suche können Sie auch nutzen, ohne Suchbegriffe einzugeben. Sie orientiert sich dann an den Kriterien, die Sie ausgewählt haben (z. B. nach dem Land oder dem Sachgebiet).

    Haben Sie in einer Kategorie kein Kriterium ausgewählt, wird die gesamte Kategorie durchsucht (z.B. alle Sachgebiete oder alle Länder).