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07.06.2023 17:00

Forschende entdecken Überreste einer ausgestorbenen Welt unserer frühen Vorfahren in Milliarde-Jahre alten Gesteinen

Jana Nitsch Pressestelle
MARUM - Zentrum für Marine Umweltwissenschaften an der Universität Bremen

    Neu entdeckte Überreste von Biomarkern, so genannte Protosteroide, deuten auf eine ganze Reihe bisher unbekannter Organismen hin, die vor etwa einer Milliarde Jahren das damalige komplexe Leben auf der Erde beherrschten. Sie unterschieden sich von den uns vertrauten eukaryontischen Lebewesen durch ihren Zellaufbau und wahrscheinlich auch durch ihren Stoffwechsel. Dieser war an eine Welt angepasst, die weit weniger Sauerstoff in der Atmosphäre aufwies als heute. Ein Team von Wissenschaftler:innen, dem auch der Geochemiker Benjamin Nettersheim vom MARUM, Universität Bremen angehört, berichtet in der Fachzeitschrift Nature über den Durchbruch für die evolutionäre Geobiologie.

    Neu entdeckte Überreste von Biomarkern, so genannte Protosteroide, deuten auf eine ganze Reihe bisher unbekannter Organismen hin, die vor etwa einer Milliarde Jahren das damalige komplexe Leben auf der Erde beherrschten. Sie unterschieden sich von den uns vertrauten eukaryontischen Lebewesen, also von Menschen, Tieren, Pflanzen und Algen, durch ihren Zellaufbau und wahrscheinlich auch durch ihren Stoffwechsel. Dieser war an eine Welt angepasst, die weit weniger Sauerstoff in der Atmosphäre aufwies als heute. Ein internationales Team von Wissenschaftler:innen, dem auch der Geochemiker Benjamin Nettersheim vom MARUM – Zentrum für Marine Umweltwissenschaften der Universität Bremen und Fachbereich Geowissenschaften der Universität Bremen angehört, berichtet jetzt in der Fachzeitschrift Nature über diesen Durchbruch für die evolutionäre Geobiologie.

    Die neu entdeckten „Protosteroide“ waren im Erdmittelalter überraschend häufig. Produziert wurden diese Ur-Fette in einem früheren Stadium in der Entwicklung des komplexen Lebens. Die Funde verlängern damit das Alter der fossilen Belege von Steroiden auf über 800 Millionen Jahre vor heute hinaus bis zu 1.600 Millionen Jahre in die Vergangenheit. Eukaryonten ist die Bezeichnung für ein „Reich“, zu dem alle Tiere, Pflanzen und Algen gehören und das sich von den Bakterien (einem anderen „Reich“ des Lebens) durch eine komplexe Zellstruktur mit einem Zellkern und einem komplexeren molekularen Apparat unterscheidet. „Das Besondere an dieser Entdeckung ist nicht nur der viel früher zu datierende molekulare Nachweis von Eukaryonten“, sagt Christian Hallmann vom Deutschen GeoForschungsZentrum GFZ, der an der Studie mitgewirkt hat. „Da der letzte gemeinsame Vorfahre aller modernen Eukaryonten, einschließlich des Menschen, wahrscheinlich in der Lage war, 'normale' moderne Sterine zu produzieren, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass die Eukaryonten, die für diese seltenen Signaturen verantwortlich sind, zum „Stamm“ des evolutionären Baumes gehörten."

    Beispielloser Einblick in verlorene Welt

    Dieser „Stamm“ stellt die gemeinsame Linie jener Organismen dar, die Vorfahren aller heute lebender Zweige der Eukaryonten waren. Ihre Vertreter sind längst ausgestorben, doch Einzelheiten über ihre Natur könnten Aufschluss über die Bedingungen für das Entstehen von komplexem Leben geben. Die Wissenschaftler:innen sehen zwar noch weiteren Forschungsbedarf, um etwa zu ermitteln, wie hoch der Anteil der Protosteroide ist, der möglicherweise aus einer seltenen bakteriellen Quelle stammt. Aber die Entdeckung dieser neuen Moleküle bringt nicht nur die geologischen Spuren der herkömmlichen Fossilien mit denen der fossilen Lipidmoleküle in Einklang, sondern gewährt auch einen beispiellosen Einblick in eine verlorene Welt des frühen Lebens. Die Verdrängung der Stammgruppe durch die modernen Eukaryonten vor etwa 800 Millionen Jahren ist durch das erste Auftreten weiterentwickelter Sterine wie fossiles Cholesterin gekennzeichnet. Dieser Übergang könnte eines der einschneidendsten Ereignisse in der Evolution des zunehmend komplexen Lebens darstellen.

    „Fast alle Eukaryonten erzeugen Steroide, wie zum Beispiel Cholesterin, das von Menschen und den meisten anderen Tieren produziert wird“, fügt Benjamin Nettersheim, einer der Haupt-Autoren der Studie, hinzu. „Aufgrund der potenziell gesundheitsschädlichen Auswirkungen eines erhöhten Cholesterinspiegels beim Menschen hat Cholesterin aus medizinischer Sicht nicht den besten Ruf. Diese Lipidmoleküle sind jedoch integraler Bestandteil der eukaryontischen Zellmembranen, wo sie eine Vielzahl physiologischer Funktionen erfüllen. Durch die Suche nach fossilen Steroiden in alten Ablagerungen können wir die Entwicklung von immer komplexerem Leben nachvollziehen.“

    Was der Nobelpreisträger nicht für möglich hielt

    Der Nobelpreisträger Konrad Bloch hatte bereits vor fast 30 Jahren in einem Aufsatz über einen solchen Biomarker spekuliert. Bloch postulierte, dass kurzlebige Zwischenprodukte in der modernen Biosynthese von Steroiden möglicherweise nicht immer nur Zwischenprodukte waren. Er nahm vielmehr an, dass sich die Lipidbiosynthese im Laufe der Erdgeschichte parallel zu den sich ändernden Umweltbedingungen entwickelt hat. Im Gegensatz zu Bloch, der nicht glaubte, dass diese alten Zwischenprodukte jemals gefunden werden könnten, machte sich Nettersheim auf die Suche nach Protosteroiden in Gesteinen, die zu einer Zeit abgelagert wurden, als diese Zwischenprodukte tatsächlich das Endprodukt gewesen sein könnten.

    Aber wie findet man solche Moleküle in alten Gesteinen? „Wir haben eine Kombination von Techniken angewandt, um verschiedene moderne Steroide zunächst in ihr fossiles Äquivalent umzuwandeln; andernfalls hätten wir gar nicht gewusst, wonach wir suchen sollten“, sagt Jochen Brocks, Professor an der Australian National University, der sich die Erstautorenschaft der neuen Studie mit Nettersheim teilt. Forschende hatten diese Moleküle jahrzehntelang übersehen, weil sie nicht in das typische Raster der Molekülsuche passen. „Sobald wir unser Ziel kannten, entdeckten wir, dass Dutzende anderer Gesteine, die aus Milliarden Jahre alten Gewässern auf der ganzen Welt stammten, mit ähnlichen fossilen Molekülen übersät waren“, sagt Brocks.

    Umweltveränderungen und der Niedergang des urtümlichen Lebens

    Die ältesten Proben mit dem Biomarker kommen aus der Barney-Creek-Formation in Australien und sind 1,64 Milliarden Jahre alt. In den Gesteinsschichten der nächsten 800 Millionen Jahre finden sich nur fossile Moleküle von Ur-Eukaryonten, bevor molekulare Signaturen moderner Eukaryonten erstmals in der so genannten Tonium-Periode auftreten. Laut Nettersheim „erweist sich die Tonium-Transformation als einer der tiefgreifendsten ökologischen Wendepunkte in der Geschichte unseres Planeten“. Hallmann fügt hinzu, dass „sowohl primordiale Stammgruppen als auch moderne eukaryotische Vertreter wie Rotalgen viele hundert Millionen Jahre lang nebeneinander gelebt haben dürften“.

    In dieser Zeit wurde die Erdatmosphäre jedoch zunehmend mit Sauerstoff angereichert – einem Stoffwechselprodukt der Cyanobakterien und der ersten eukaryontischen Algen, das für viele andere Organismen giftig war. Später kam es zu globalen Vereisungen („Schneeball-Erde“) und die Protosterol-Gemeinschaften starben weitgehend aus. Der letzte gemeinsame Vorfahre aller lebenden Eukaryonten könnte vor 1,2 bis 1,8 Milliarden Jahren gelebt haben. Seine Nachkommen waren wahrscheinlich besser in der Lage, Hitze und Kälte sowie UV-Strahlung zu überleben und verdrängten ihre ursprünglichen Verwandten.

    Da alle Stammgruppen-Eukaryonten längst ausgestorben sind und nur die jüngeren Äste überlebt haben, werden wir nie mit Sicherheit wissen, wie die meisten unserer frühen Verwandten aussahen. Aber die Ur-Steroide werfen möglicherweise mehr Licht auf ihre Biochemie und Lebensweise. „Die Erde war während eines Großteils ihrer Geschichte eine mikrobielle Welt, deren Bewohner nur wenige Spuren hinterlassen haben“, fasst Nettersheim zusammen. Die Forschung am MARUM, der Australischen National Universität und dem Deutschen GeoForschungsZentrum GFZ ist weiterhin auf der Suche nach den Wurzeln unseres Lebens – die Entdeckung der Protosterole bringt uns nach Ansicht der Forschenden einen Schritt näher an das Verständnis, wie unsere frühesten Vorfahren lebten und sich entwickelten.

    Ein näherer Blick in die Kinderstube des komplexen Lebens

    Im weltweit einzigartigem Geobiomolecular Imaging Labor im MARUM an der Universität Bremen, schießt Dr. Nettersheim nun mit einem Laserstrahl auf die Milliarde-Jahre alten Gesteine. Die aus den Sedimentgesteinen freigesetzten Moleküle werden direkt in ein ultra-hochauflösenden Massenspektrometer geleitet. So wollen Nettersheim und das internationale Team von Forschenden in bisher unerreichter Auflösung die Kinderstube des komplexen Lebens beleuchten. Die Arbeit der Wissenschaftler:innen soll auch in Zukunft zu einem tieferen Verständnis unserer frühen eukaryontischen Vorfahren und der Co-Evolution unseres Planeten und des Lebens beitragen.

    Beteiligte Institutionen:
    • Research School of Earth Sciences, The Australian National University, Canberra, Australien
    • MARUM – Zentrum für Marine Umweltwissenschaften, Universität Bremen, Bremen, Deutschland
    • Fachbereich Geowissenschaften, Universität Bremen, Bremen, Deutschland
    • Université de Strasbourg, CNRS, Institut de Chimie de Strasbourg, Strasbourg, Frankreich
    • Northern Territory Geological Survey, Darwin, Australien
    • Deutsches GeoForschungsZentrum GFZ, Potsdam, Deutschland

    Das MARUM gewinnt grundlegende wissenschaftliche Erkenntnisse über die Rolle des Ozeans und des Meeresbodens im gesamten Erdsystem. Die Dynamik des Ozeans und des Meeresbodens prägen durch Wechselwirkungen von geologischen, physikalischen, biologischen und chemischen Prozessen maßgeblich das gesamte Erdsystem. Dadurch werden das Klima sowie der globale Kohlenstoffkreislauf beeinflusst und es entstehen einzigartige biologische Systeme. Das MARUM steht für grundlagenorientierte und ergebnisoffene Forschung in Verantwortung vor der Gesellschaft, zum Wohl der Meeresumwelt und im Sinne der Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen. Es veröffentlicht seine qualitätsgeprüften, wissenschaftlichen Daten und macht diese frei zugänglich. Das MARUM informiert die Öffentlichkeit über neue Erkenntnisse der Meeresumwelt, und stellt im Dialog mit der Gesellschaft Handlungswissen bereit. Kooperationen des MARUM mit Unternehmen und Industriepartnern erfolgen unter Wahrung seines Ziels zum Schutz der Meeresumwelt.


    Wissenschaftliche Ansprechpartner:

    Dr. Benjamin Nettersheim
    MARUM – Zentrum für Marine Umweltwissenschaften, Universität Bremen
    Organische Geochemie
    Telefon: +49 421 218-65710
    E-Mail: bnettersheim@marum.de

    Professor Jochen J. Brocks
    Forschungsschule für Geowissenschaften, The Australian National University
    Telefon: +61 2 61257946
    E-Mail: jochen.brocks@anu.edu.au


    Originalpublikation:

    Jochen J. Brocks, Benjamin J. Nettersheim, Pierre Adam, Philippe Schaeffer, Amber J. M. Jarrett, Nur Güneli, Tharika Liyanage, Lennart M. van Maldegem, Christian Hallmann, Janet M. Hope: Lost world of complex life and the late rise of the eukaryotic crown. Nature 619 (2023). DOI: 10.1038/s41586-023-06170-w


    Weitere Informationen:

    https://www.marum.de/en/about-us/HinrichsLab-Geobiomolecular-Imaging-Laboratory....
    http://Link zum Labor für Geobiomolecular Imaging Labor (Geobiomolekulare Bildgebung) am MARUM


    Bilder

    Benjamin Nettersheim, einer der Hauptautoren der Studie, untersucht ultra-hoch aufgelöste in-situ Verteilungen von chemischen Elementen und organischen Molekülen in 1,64 Milliarden-Jahre alten Gesteinsproben, die im Geobiomolecular Imaging Labor am MARUM.
    Benjamin Nettersheim, einer der Hauptautoren der Studie, untersucht ultra-hoch aufgelöste in-situ Ve ...
    V. Diekamp
    MARUM – Zentrum für Marine Umweltwissenschaften, Universität Bremen; V. Diekamp

    Dr. Nettersheim gibt einen Dünnschliff und eine Gesteins-Scheibe in ein 7T solariX XR FT-ICR-MS im Geobiomolecular Imaging Labor am MARUM. Das hochauflösende Massenspektrometer ist mit einer Laser-Desorptionsquelle ausgestattet ist.
    Dr. Nettersheim gibt einen Dünnschliff und eine Gesteins-Scheibe in ein 7T solariX XR FT-ICR-MS im G ...
    V. Diekamp
    MARUM – Zentrum für Marine Umweltwissenschaften, Universität Bremen; V. Diekamp


    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten
    Biologie, Chemie, Geowissenschaften, Meer / Klima, Umwelt / Ökologie
    überregional
    Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
    Deutsch


     

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