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Wissenschaft
Soziale Ameisen sind Meister der kollektiven Krankheitsabwehr. Sie kümmern sich um ihre Nestgenossinen und verhindern, dass sich eine Infektion innerhalb einer Kolonie ausbreitet. Aber woher weiß eine einzelne Ameise, wen sie pflegen soll? Ein multidisziplinäres Forschungsteam vom Institute of Science and Technology Austria (ISTA) und der Comenius-Universität in Bratislava hat nun die Antwort gefunden. Durch experimentelle und theoretische Ansätze erhielten die Wissenschafter:innen detaillierte Einblicke in die sanitäre Entscheidungsfindung einzelner Ameisen.
Ameisen sind ein perfektes Modell, um die Zusammenarbeit im Tierreich zu erforschen. Durch sie kann man Schlüsse darüber ziehen, wie eine Gruppe die Ausbreitung von Krankheiten verhindert. Vergleichbar mit einem Krankenhaus kümmern sich einzelne Mitglieder einer Ameisenkolonie um ihre erkrankten Nestbewohnerinnen. Doch während ein Krankenhaus feste Regeln für Triage hat, waren die individuellen Entscheidungen, wer in der Ameisenkolonie wen und wann pflegt, bis jetzt ungeklärt.
Um die Pflegeentscheidungen einer einzelnen Ameise zu entschlüsseln, haben sich die experimentelle Biologin Sylvia Cremer und ihr Forschungsteam am ISTA mit ihrem Kollegen und theoretischen Physiker Gašper Tkačik und der Mathematikerin Katarína Boďová von der Comenius-Universität in Bratislava zusammengetan. In ihrer multidisziplinären Studie, welche im Fachmagazin Nature Communications veröffentlicht wurde, untersuchten die Wissenschafter:innen Gartenameisen und Pilzsporen und fanden heraus, welche Informationen die Ameisen bei ihren individuellen Pflegeentscheidungen berücksichtigen.
Das Verhalten der Ameisen und die Sporenlast – die Menge an Pilzporen – einzelner Koloniemitglieder wurde über einen bestimmten Zeitraum analysiert. Dies ergab, dass Ameisen bevorzugt die infektiösesten Koloniemitglieder für die Pflege auswählten. Allerdings hört eine Ameise auf, andere zu pflegen, nachdem sie gerade selbst von ihren Mitbewohnerinnen gepflegt wurde. Die Ameisen bewerten also nicht nur die Ansteckungsgefahr anderer, sondern reagieren auch auf das soziale Feedback über das eigene Risiko andere anzustecken, das sie von der Kolonie erhalten. Diese einzigartige Kombination einfacher Regeln führt dazu, dass die infektiösesten Koloniemitglieder von den am wenigsten infektiösen gepflegt werden und führt letztendlich zu einer äußerst effizienten Krankheitsbekämpfung auf Kolonieebene.
Gemeinsam zum Erfolg
Soziale Ameisen sind Meister der kooperativen Krankheitsabwehr. Diese ermöglicht ihnen einen Schutz auf Kolonieebene, der als „soziale Immunität“ bezeichnet wird. Dabei handelt es sich um die kollektiven Maßnahmen zur Verringerung des Risikos von Krankheiten und deren Übertragung innerhalb der Kolonie. Frühere Studien zeigten, wie Koloniemitglieder füreinander sorgen. Unter anderem knabbern sie infektiöse Sporen von infizierten Nestgefährtinnen ab und desinfizieren sie mit Chemikalien. Aber woher wissen sie, wen sie entkeimen sollen?
Ameisen pflegen ansteckendste Mitglieder der Kolonie
Um diese Fragen zu beantworten, untersuchten die Wissenschafter:innen das Verhalten gesunder Ameisen in Bezug zu zwei Nestgenossinen, die beide infektiöse Pilzsporen in unterschiedlicher Menge auf sich trugen. Die pflegenden Ameisen konnten im Experiment entscheiden, wie sie ihre Gesundheitspflege unter den beiden Koloniemitgliedern aufteilen. Nach sorgfältigen Verhaltensbeobachtungen entdeckte Barbara Casillas, eine ehemalige PhD Studentin in der Cremer Gruppe, ein faszinierendes Phänomen beim Pflegeverhalten der Ameisen.
Die Ameisen nehmen nämlich Individuen mit der höchsten Sporenmenge bevorzugt ins Visier – also jene Ameise, die zurzeit das größte Risiko für die Gruppe darstellt. „In der Regel wählen Ameisen diejenige mit der aktuell höchsten Sporenbelastung aus, obwohl sich die Sporenbelastung durch das Entkeimen selbst ständig ändert“, erklärt Cremer. „So können die Ameisen dynamisch auf Veränderungen der Krankheitsbedrohung reagieren.“
Ameisenverhalten durch Mathematik verstehen
Experimentelle Ansätze haben jedoch ihre Grenzen. Zwar konnten die Forscher:innen beobachten, wie die Ameisen handeln, aber daraus ließ sich nicht ermitteln, aus welchen Gründen sie sich so verhalten. Die individuelle Entscheidungsfindung, die das Gruppenverhalten bestimmt, blieb nach wie vor eine „Blackbox“. Die Mathematikerin Katarína Boďová, Assistenzprofessorin an der Comenius-Universität, und Gašper Tkačik, theoretischer Physiker am ISTA, nahmen die Herausforderung gemeinsam an.
Gemeinsam entschlüsselte das Team, welche Informationen die Ameisen nutzen, um Entscheidungen darüber zu treffen, wann sie mit dem Pflegeverhalten beginnen und bei wem. Boďová erläutert: „Die Ameisen folgen einer einfachen Faustregel: Wenn sie auf eine Ameise mit einer hohen Sporenbelastung treffen, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass sie diese Ameise entkeimen.“ Das Gute dabei ist auch, dass die Ameisen sich nicht die Sporenbelastung aller Koloniemitglieder merken müssen, sondern sie können sich dabei gänzlich auf die Informationen verlassen, die sie aus dem Kontakt mit den Ameisen in ihrer Umgebung gewinnen.
Das System ist jedoch nicht perfekt. Die Ameisen pflegen auch manchmal das weniger infektiöse Tier. Doch die vielen kleinen Tendenzen für Pflege höher belasteter Individuen bei jeder Entscheidung einzelner Ameisen, summieren sich zu einer klaren Entscheidung und einer effizienten Beseitigung von Krankheitserregern auf Kolonieebene. Die Ameisen können auf minimale Unterschiede in der Sporenbelastung reagieren, treffen aber genauere Entscheidungen, wenn die Diskrepanz höher ist.
„Wir wissen noch nicht, wie die Ameisen den Unterschied in der Sporenmenge wahrnehmen. Vielleicht haben die höher belasteten Ameisen einen stärkeren Pilzgeruch“, so Cremers Hypothese. Die jüngste Arbeit der Gruppe deutet darauf hin, dass Ergosterol – ein essenzieller Membranbestandteil aller Pilze – ein mögliches Erkennungsmerkmal für die Ameisen sein könnte.
Ansteckende Ameisen beteiligen sich nicht an der Krankenpflege
Die mathematischen Modellierungen offenbarten einen weiteren Faktor, der für die Pflegetätigkeit einer Ameise relevant ist, nämlich die Sensitivität der Ameisen gegenüber sozialen Signalen ihrer Nestgenossinnen. Cremer beschreibt es als eine soziale Rückkopplungsschleife, die verhindert, dass hochinfektiöse Individuen sich um andere kümmern. Dadurch wird das Verbreitungsrisiko während der Pflege verringert.
Mehr als nur eine interessante Beobachtung von Ameisenverhalten, zielt diese Publikation darauf ab, die individuellen Entscheidungsfindungen innerhalb einer Kolonie zu verstehen. Cremer resümiert: „Die Zusammenarbeit mit unseren Kolleg:innen aus der theoretischen Wissenschaft ermöglichte uns neue Einblicke in die individuelle Entscheidungsfindung von Ameisen, die ihrer sozialen Immunität und kooperativen Krankheitsabwehr zugrunde liegen.“
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Projektförderung:
Der ISTA-Teil des Projekts wurde mit Mitteln des Europäischen Forschungsrats (ERC) im Rahmen des European Union’s Horizon 2020 research and innovation program (Grant No. 771402; EPIDEMICSonCHIP an Sylvia Cremer) und des Human Frontier Science Program (Grant No. RGP0065/2012 an Gašper Tkačik) unterstützt.
Information zu Tierversuchen:
In dieser Studie wurde eine nicht geschützte Ameisenart verwendet. Das Sammeln der Ameisen aus dem Freiland, die Aufzucht im Labor und alle experimentellen Arbeiten folgen europäischem und österreichischem Recht, sowie den institutionellen ethischen Richtlinien.
B. Casillas-Pérez, K. Boďová, A. V. Grasse, G. Tkačik & S. Cremer. 2023. Dynamic pathogen detection and social feedback shape collective hygiene in ants. Nature Communications. DOI: https://doi.org/10.1038/s41467-023-38947-y
https://ista.ac.at/ Institute of Science and Technology Austria (ISTA)
https://ist.ac.at/de/forschung/cremer-gruppe/ Sylvia Cremer und ihr Forschungsteam am ISTA
https://ist.ac.at/de/forschung/tkacik-gruppe/ Gašper Tkačik und sein Forschungsteam am ISTA
Das Kolonieleben der Ameisen. Ameisen gehören zu den am weitesten verbreiteten Tieren unserer Welt u ...
Sina Metzler & Roland Ferrigato
Sina Metzler & Roland Ferrigato/ISTA
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Biologie
überregional
Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch
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