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09.12.1998 14:04

Standpunkt: Konstruktivismus im Unterricht: Warum bleibt Wissen träge?

Dr. Thomas Pleil Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt

    Konstruktivismus ist ein eigentlich aus der antiken Philosophie stammender Ansatz, der - vereinfacht dargestellt - fragt, ob die Welt, wie wir sie sehen Wirklichkeit ist, oder ob sich jeder sein Weltbild selbst konstruiert. Neue Erkenntnisse aus Kybernetik, Biologie, Entwicklungspsychologie und Hirnforschung geben dem Konstruktivismus nun neue Aktualität. Besonders Forschungen zu menschlichen Verstehensprozessen legen die Frage nahe, welche Bedeutung Konstruktivismus etwa für den Schulunterricht hat. In der Öffentlichkeit herrscht jedoch Verwirrung und ein falsches Bild der konstruktivistischen Praxis, so der Autor dieses Standpunktes, Prof. Dr. Klaus Müller, Professur für Deutsch als Fremdsprache an der Katholischen Universität Eichstätt.

    Im FOCUS 45/1998 erschien ein Artikel mit dem Titel "Ich bin dumm - und stolz darauf", der vor einer 'Unterwanderung unserer Schulen' durch 'Radikale Konstruktivisten' warnt. Unter anderem wird behauptet, daß der Lehrer die Schüler völlig chaotisch selbst den Lernstoff entdecken läßt, "selbst wenn die Suche tagelang dauert" und daß jegliches Wissen als völlig beliebig und relativistisch gelte. Es mag sein, daß einige eher einfältige Pädagogen die Grundaussagen des Konstruktivismus in dieser Weise verstehen und erzieherisch umsetzen. Der Praxis einer konstruktivistisch fundierten Lehr- und Lernwirklichkeit entsprechen sie jedoch nicht.An der Katholischen Universität Eichstätt wird dagegen versucht, die Grundpositionen einer pragmatisch konstruktivistischen Lernkultur zu entwickeln, die das Ziel hat, den gängigen Unterricht durch Elemente und Projekte zu erweitern, die explorativen und selbstgesteuerten Wissenserwerb fördern. Dabei geht es letztendlich auch darum, daß Lernende Wissen so aufbauen, daß sie es möglichst dauerhaft anwenden können.

    Die Gefahr des trägen Wissens

    Der herkömmliche, rein instruktionelle Unterricht, ist geprägt durch die Dominanz des Lehrers und eine rezeptive Passivität der Schüler. Oft wird Wissen in einer Form erworben, die eine spätere Anwendung ausschließt. Die Schüler können ihr Wissen in konkreten Situationen nicht anwenden, weil sie seinen Sinn und Wirklichkeitsbezug nicht erkennen. Sie können ihr abstraktes Wissen nicht übertragen. Es bleibt also 'träge'.

    Die Metapher des Nürnberger Trichters ist falsch

    Bei den meisten Pädagogen ist die Gefahr der Erzeugung von trägen Wissem bekannt. Allgemein wird gesehen, daß Wissen nur dann relevant, praxisnah und anwendbar ist, wenn die Schüler selbst die Wege der Problemlösung nachvollziehen, die historisch gesehen zu dessen Entwicklung geführt haben. Sie nach dem Modell des Nürnberger Trichters einfach mit Problemlösungen zu füttern, deren ursprüngliches Problem unbekannt bleibt, führt dazu, daß dieses Wissen als sinnlos und unanwendbar erscheint. In konstruktivistischen Lernprojekten soll daher die gängige instruktionelle Unterrichtspraxis anläßlich ausgewählter Lernprobleme durch die Schaffung geeigneter Lernumgebungen ergänzt (und nicht etwa abgeschafft) werden.

    Warum bezieht sich diese pragmatische Position auf den Konstruktivismus?

    Der Konstruktivismus entstand als Kognitionstheorie in der Biologie (Maturana), Kybernetik (von Glasersfeld) und Entwicklungspsychologie (Piaget). Erkenntnistheoretisch steht er in der Tradition der Vorsokratiker und der Skepsis, Vicos, Humes, Berkeleys und Kants. Als Grundannahme gilt der Befund, daß im Prozeß der Wahrnehmung keine Realität abgebildet, sondern vielmehr eine relative und subjektive Wirklichkeit geschaffen ('konstruiert') wird: "die Welt wird nicht gefunden, sondern erfunden (Heinz von Foerster). Der systemorientierte konstruktivistische Ansatz kann einerseits an die Kognitive Psychologe (Neisser), andererseits an das Konzept des Sozialen Konstruktivismus (Berger/Luckmann) angebunden werden. Er wird weiterhin heute fast in allen wissenschaftlichen Bereichen diskutiert, beispielsweise in der Wirtschafts- und Literaturtheorie, Künstlichen Intelligenz und Wissenschaftstheorie.

    Als ursprüngliche Wahrnehmungstheorie beinhaltet der Konstruktivismus unausweichlich Theorien und Annahmen zum Lernen und zum Gedächtnis. Damit gerät er ins Blickfeld der Didaktik. Bisher liegen u.W. Konzepte einer konstruktivistischen Didaktik in den Fächern Mathematik (von Glasersfeld) und Physik vor. Unser eigenes Interesse gilt insbesondere der (Fremd-)Sprachen- und Literaturdidaktik. Dabei geht es uns sowohl um die Weiterentwicklung der theoretischen und empirischen Grundlagen einer konstruktivistischen Lerntheorie als auch um die Erprobung didaktischer Konzepte, die wichtige Annahmen des Konstruktivismus zugrundelegen. Als konsensfähig gelten uns zur Zeit folgende Annahmen: "Wissen kann nie als solches von einer Person zur anderen übermittelt werden. (..) Die einzige Art und Weise, in der ein Organismus Wissen erwerben kann, (besteht darin), es selbst aufzubauen oder für sich selbst zu konstruieren." (von Glasersfeld, Wissen, Sprache und Wirklichkeit, S. 133).

    Was zeichnet konstruktivistisch fundierte Lernumgebungen aus?

    Im Gegensatz zu gängigen 'Eintrichterungstheorien' wird eine konstruktivistische Didaktik das Lernen als einen Prozeß der Selbstorganisation von Wissen verstehen. Das bedeutet, jeder Schüler wird neue Lerninhalte zunächst in Zusammenhang zu seinen Erlebnissen, seiner Weltsicht setzen. Dieses Prozeß ist damit relativ, individuell und unvorhersagbar. Ziel der Lehrer muß sein, möglichst reichhaltige kommunikationsorientierte Umgebungen zu schaffen, welche die subjektiven Erfahrungsbereiche ansprechen und gleichzeitig neue 'Rätsel' beinhalten, die pragmatisch, interaktiv und kreativ zur Selbstorientierung einladen. Die Kunst des Lehrers besteht darin, zwischen der ursprünglichen Wirklichkeitskonstruktion des Lerners und derjenigen, die wissenschaftlich und gesellschaftlich als konsensfähig gilt, eine Kette von optimalen Diskrepanzen vorzusehen, die von den Lernern als Erwartungswiderspruch erlebt und durch Versuch und Irrtum produktiv überwunden werden.

    Für uns steht also das Individuum mit seinem subjektiven Erfahrungsbereich im Vordergrund. Didaktisch sind Situationen zu schaffen, die zu einer Veränderung seines Wirklichkeitsmodells in einem bestimmten Teilbereich einladen. Kooperativität, Kommunikation und Interaktion dienen der Problemdefinition und Problemlösung, wobei der Bedeutungsaushandlung eine große Rolle zukommt. Dabei muß jeder Lerner seine eigenen Handlungsziele realisieren können, die Ausdruck der gerade erreichten kognitiven Struktur und ihrem Sinnpotential sind. Der Lehrer muß seine eigene Rolle eher sokratisch sehen. Im Ergebnis wird so der Aufbau trägen Wissens vermieden, denn Wissen wird problemlösend, handlungsorientiert und aktiv statt abstrakt und passiv vermittelt

    Elemente der pragmatisch-konstruktivistischen Lernkultur

    Die pragmatisch-konstruktivistische Lernkultur versucht eine Symbiose zwischen der traditionell lehrerzentrierten Instruktionspädagogik und einer lernerzentrierten Konstruktionspädagogik herzustellen. Je nach Schulfach, Wissensgebiet und Lehrplan sollen dabei eher instruktionelle und eher konstruktivistische Lehr-Lern-Phasen einander abwechseln und ergänzen. Es ist dabei also weder an die 'Abschaffung' der Schule, des Lehrers, des Curriculums noch der Noten gedacht. Auch wird nicht beliebig experimentiert und jeder Fehler akzeptiert. In den konstruktivistischen Lernprojekten wird der Lehrer jedoch anders als in den instruktionellen eine zunächst eher tutorielle und beobachtende Rolle spielen, um die Schülerexplorationen sanft zu steuern und kooperativ anzuleiten. Derartige Formen des Unterrichts sind im übrigen nicht neu, sondern in vielen bekannten reformpädagogischen Ansätzen enthalten.

    Pragmatischer Konstruktivismus an der Katholischen Universität Eichstätt

    Seit einigen Jahren versuchen wir, die skizzierten Konzepte im Bereich der Literaturdidaktik (Prof. Dr. Herta-Elisabeth Renk) und der Fremdsprachendidaktik (Prof. Dr. Klaus Müller) zu entwickeln, zu erproben und zu evaluieren. Über mehrere Projekte an Schulen liegen ausführliche Studien vor. Als besonders positiv haben sich die Konzepte u.a. beim Sprachunterricht für ausländische Jugendliche herausgestellt. Der letzte internationale Kongreß fand vom 5. bis 7. November 1998 in Eichstätt statt.

    Autor: Prof. Dr. Klaus Müller, Professur für Deutsch als Fremdsprache an der Katholischen Universität Eichstätt.

    Für nähere Informationen wenden Sie sich an:
    Dr. Johanna Meixner
    e-mail: johanna.meixner@ku-eichstaett.de
    Fax: 08421 / 93 1797
    Tel.: 08421 / 93 1523


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Pädagogik / Bildung
    überregional
    Forschungsprojekte
    Deutsch


     

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