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18.07.2024 10:10

Staat hat „kalte Progression“ zwischen 2021 und 2024 für die meisten Arbeitnehmer*innen-Haushalte ausgeglichen

Rainer Jung Abt. Öffentlichkeitsarbeit
Hans-Böckler-Stiftung

    Umfassende Berechnung für Steuern und Sozialabgaben

    Staat hat „kalte Progression“ zwischen 2021 und 2024 für die meisten Arbeitnehmer*innen-Haushalte ausgeglichen – Kaufkraft bei vielen Haushalten wieder auf Niveau von 2021

    Die aktuelle Bundesregierung hat seit Ihrem Amtsantritt 2021 die so genannte „kalte Progression“ für die meisten Haushalte vollständig ausgeglichen und für viele Haushalte sogar überkompensiert.

    Wenn man sowohl Steuern als auch Sozialabgaben und zudem die Zahlungen aus dem Kindergeld berücksichtigt, haben die meisten Arbeitnehmer*innenhaushalte in Deutschland heute mindestens so viel Netto vom Brutto wie 2021, einige sogar deutlich mehr. Ausnahme sind dabei Familien mit Kindern im mittleren Einkommensbereich, bei denen eine unterproportionale Erhöhung des Kindergeldes und erhöhte Sozialabgaben das Nettogehalt so stark schmälern, dass ihnen von jedem verdienten Euro netto weniger bleibt als 2021. Trotz der unter dem Strich unterstützenden Politik hat aber die Kaufkraft der meisten deutschen Arbeitnehmer*innenhaushalte durch die hohe Inflation der letzten Jahre kaum Fortschritte gemacht. Betrachtet man nicht nur die Veränderung bei Steuern und Abgaben, sondern auch die haushaltsspezifische Inflation und die Lohnsteigerungen, so bleibt nur wenigen Haushalten spürbar mehr Kaufkraft als 2021. Das ergibt eine neue Studie des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung.*

    Unter dem Begriff „kalte Progression“ versteht man, wenn Beschäftigte durch Lohnerhöhungen, die einzig die Teuerung ausgleichen, höhere Steuersätze zahlen müssen. Um dies zu vermeiden, hat die Bundesregierung in den vergangenen Jahren wiederholt den Steuertarif angepasst. Wie die Untersuchung von Prof. Dr. Sebastian Dullien, Wissenschaftlicher Direktor des IMK, sowie seinen beiden Kolleginnen Dr. Katja Rietzler und Dr. Silke Tober, zeigt, spielen die Sozialversicherungsbeiträge eine zentrale Rolle. Für die Frage nach der „kalten Progression“ wird in der Studie daher ein weit gefasster Begriff zugrunde gelegt, der Entwicklungen bei der Einkommensbesteuerung und bei der Sozialversicherung berücksichtigt.

    So ist die Steuer- und Abgabenbelastung für praktisch alle Singlehaushalte und Paarhaushalte ohne Kinder entweder – bis auf kaum messbare Veränderungen im Promillebereich – unverändert geblieben oder gefallen, und damit der Anteil des Nettoverdienstes an den Bruttoeinkommen gestiegen (siehe auch Abbildung 1 & 2 in der pdf-Version dieser PM; Link unten). Deutlich entlastet wurden dabei vor allem Single-Haushalte mit Bruttoeinkommen von unter 20.000 Euro und mehr als etwa 50.000 Euro pro Jahr (bei Paaren ohne Kinder mit jeweils den doppelten Werten). Familien mit Kindern im mittleren Einkommensbereich wurden in der Summe durch die Veränderungen bei Steuern, Abgaben und Kindergeld allerdings etwas schlechter gestellt, zumindest, wenn man alle Zahlungen einschließlich des Kinderbonus´ 2021 berücksichtigt (Abbildung 3).

    – Entlastung für Familien mit mittleren Einkommen funktioniert am besten über höheres Kindergeld –

    „Eine Notwendigkeit für eine allgemeine Senkung der Einkommensteuer etwa durch eine Verschiebung des Steuertarifs ist deshalb nach dieser Analyse nicht gegeben und sollte auch gerade vor dem Hintergrund der engen Finanzierungsspielräume unter der Schuldenbremse sehr genau überlegt werden“, schreiben die Forschenden. Wenn man zielgenau Familien mit niedrigeren bis mittleren Einkommen entlasten wolle, sei dafür am besten eine stärkere Erhöhung des Kindergeldes geeignet.

    Um zu ermitteln, wie sich die Kaufkraft von Arbeitnehmer*innen in den stark von hoher Inflation geprägten Jahren seit 2021 verändert hat, ist es nach Analyse der Forschenden allerdings nicht ausreichend, nur Steuern und Abgaben zu betrachten. „Das volle Bild ergibt sich erst, wenn man Steuern, Abgaben, Löhne und die für die einzelnen Haushalte relevanten Preise zusammen analysiert“, erläutert IMK-Direktor Dullien. Hier zeige sich, dass viele Arbeitnehmer*innen-Haushalte in Deutschland bei der Kaufkraft trotz des Ausgleichs der „kalten Progression“ seit 2021 kaum Fortschritte gemacht haben. Grund sei hier, dass die Löhne in den vergangenen Jahren trotz vergleichsweise hoher nominaler Zuwachsraten mit den Preisen in vielen Fällen nicht vollständig mitgehalten haben.

    Dies gilt insbesondere für Haushalte mit Kindern, die wegen des hohen Anteils an Ausgaben für Lebensmittel und Energie an ihren Warenkörben eine besonders hohe Teuerung erlebt haben. Alleinerziehende und Paarfamilien mit Kindern und mittleren Einkommen stehen so bei ihrer Gesamtkaufkraft etwas schlechter da als vor drei Jahren und verzeichnen gegenüber 2021 „Kaufkraftlücken“ von bis zu 492 Euro. Deutlich besser sieht es für einen Teil der Alleinstehenden aus, vor allem für Singles mit hohen Einkommen und etwas abgeschwächt auch für Personen, die im Niedriglohnbereich arbeiten.

    Gestärkt wird aktuell gegenüber 2021 auch die Kaufkraft von Arbeitnehmer*innen, die eine steuer- und abgabenfreie Inflationsausgleichsprämie bekommen. Mit Prämie können auch Alleinstehende mit mittleren Einkommen einen Kaufkraftzuwachs um mehrere hundert Euro verbuchen, während ohne Prämie in dieser Gruppe die Kaufkraft praktisch stagniert (für genaue Zahlen siehe auch die Tabelle in der pdf-Version dieser PM). Da es sich bei den Prämien um Einmalzahlungen handelt, fällt dieser positive Effekt 2025 allerdings weg. „Kaufkrafteinbußen können nur vermieden werden, wenn dies in den Tarifabschlüssen berücksichtigt wird“, analysiert IMK-Direktor Dullien.

    „Der Staat hat bei der Einkommensteuer seine Hausaufgaben gemacht, um eine Zusatzbelastung durch die hohe Inflation auszugleichen“, so Dullien weiter. Auch die Tarifparteien hätten deutlich dazu beigetragen, dass die durch die Energie- und Nahrungsmittelschocks entstandenen Kaufkraftlücken bereits in diesem Jahr teils geschlossen, teils zumindest deutlich verkleinert wurden. Das sei angesichts der stagnativen Entwicklung ein deutlicher Erfolg. „Mit dem Abklingen der Schocks sollten absehbar auch wieder Reallohnsteigerungen möglich sein“, so Dullien. Von 2009 bis 2019 etwa legten die realen Stundenlöhne im Jahresschnitt um fast 1,5 Prozent zu – im deutlichen Kontrast zu der Stagnation von 2021 bis 2024.

    Methodik und detaillierte Ergebnisse der Studie:

    In ihrer Untersuchung berechnen Dullien, Rietzler und Tober zunächst, welcher Anteil vom Bruttolohn Singles, Paaren und Familien mit verschiedenen Einkommen netto bleibt, wenn ihre Löhne von 2021 bis 2024 genau mit der Rate der allgemeinen Inflation gestiegen wären. Einbezogen werden dabei alle Steuern und Sozialabgaben, einschließlich Kindergeld- und Kinderbonuszahlungen. Anhand dieser Berechnungen identifizieren die Forschenden, in welchen Fällen die „kalte Progression“ nach Berücksichtigung der Steuer- und Abgabenrechtsänderungen noch Mehrbelastungen bedeutet. Bürgergeld und Wohngeld werden nicht berücksichtigt.

    Darüber hinaus berechnen sie für verschiedene Haushaltstypen in unterschiedlichen Einkommensklassen, wie sich Brutto- und Nettoeinkommen und die Kaufkraft der verfügbaren Einkommen zwischen 2021 und 2024 entwickelt haben. Die Haushalte unterscheiden sich nach Personenzahl, Zahl der Erwerbstätigen sowie Einkommen und reichen von einer alleinlebenden Person mit Niedrigverdienst bis zur vierköpfigen Familie mit Doppelverdienst und sehr hohem Einkommen. In diese Berechnungen gehen die gesamtwirtschaftlichen Lohnsteigerungen ein und es wird jeweils die haushaltsspezifische Inflationsrate zugrunde gelegt, die sich etwa deshalb unterscheidet, weil Familien mit niedrigeren Einkommen einen größeren Anteil ihres Einkommens für Nahrungsmittel ausgeben als hochverdienende Singles. Anhand von drei Modellrechnungen zeigen die Forschenden zudem beispielhaft, wie sich Inflationsausgleichsprämien in unterschiedlicher Höhe für Beschäftigte aus der Einkommens-Mittelschicht auswirken. Insgesamt wurden damit 16 beispielhafte Haushalts- und Einkommenskonstellationen untersucht.

    Datenbasis für die Studie ist die repräsentative Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS), die die Forschenden unter anderem mit Daten zum Steuertarif, zur Abgabenentwicklung, zur haushaltsspezifischen Wirkung der verschiedenen Entlastungsprogramme und zur gesamtwirtschaftlichen Lohnentwicklung fortschreiben. Bei der Frage, ob eine „kalte Progression“ ausgeglichen wurde oder nicht, verfolgen die Wissenschaftler*innen also ein umfassendes Einkommenskonzept, statt allein die Einkommensteuer zu betrachten. Differenziertere Aussagen zu Beschäftigten aus unterschiedlichen Branchen sind auf dieser Datenbasis nicht möglich.

    Über mehrere Analyseschritte kommen Dullien, Rietzler und Tober zu folgenden Ergebnissen:

    „Kalte Progression“ meist überkompensiert. Die Mehrheit der untersuchten Haushalte haben 2024 bei ihren Einkommen mindestens so viel Netto vom Brutto übrig wie vor dem Inflationsschub 2021, die „kalte Progression“ wurde also mehr als ausgeglichen. Überdurchschnittlich groß ist der Effekt bei Singles mit sehr hohen Einkommen und bildet sich erst oberhalb der Grenze, ab der die Reichensteuer greift, wieder zurück. Grund: Sie haben stark von Entlastungen bei der Einkommensteuer profitiert und zahlen die angehobenen Beitragssätze in der Kranken- und Arbeitslosenversicherung nur auf einen Teil ihres Einkommens, weil das Gesamteinkommen über der Beitragsbemessungsgrenze liegt. Leicht zusätzlich belastet sind dagegen Doppelverdiener-Paare mit Kindern mit der Ausnahme von Familien mit hohen Einkommen.

    Trotz staatlicher Entlastung bleiben in einigen Fällen Kaufkraftverluste. Die Betrachtung der Veränderung der Kaufkraft der Haushalte fällt nicht ganz so positiv aus wie die Betrachtung bei der „kalten Progression“. Nicht in allen Fällen konnten die Bruttolohnerhöhungen mit der haushaltsspezifischen Teuerung mithalten. In einigen dieser Fälle kam es so trotz staatlicher Entlastung zu Kaufkraftverlusten. Gleichzeitig haben einige Familien 2024 eine höhere Steuer- und Abgabenlast und deshalb per Saldo Kaufkraft verloren. Leicht im Minus liegen Doppelverdiener-Paare ohne Kinder mit mittleren Einkommen (-30 Euro; siehe Tabelle im Anhang). Alleinerziehende und Paarfamilien mit Kindern und mittleren Einkommen büßen stärker an Kaufkraft ein. Bei ihnen hat sich auch das Verhältnis von Brutto zum Netto etwas verschlechtert. Das liegt daran, dass sich bei diesen Familien die Entlastungen bei der Einkommensteuer relativ wenig auswirken, die Erhöhung der Beitragssätze in der Kranken- und Arbeitslosenversicherung hingegen relativ stark zu Buche schlägt, während die Erhöhung des Kindergeldes im Untersuchungszeitraum sehr deutlich unterhalb der Inflation lag.

    Demgegenüber stehen auch Haushalte mit deutlichen Kaufkraftgewinnen. Familien mit höherem Einkommen etwa profitierten tendenziell vom jährlich angepassten Kinderfreibetrag, der seit 2021 um 11 Prozent angehoben wurde und damit deutlich stärker als das Kindergeld. Entscheidend ist aber auch hier, dass sich die erhöhten Beitragssätze nur bis zu den unterproportional angehobenen Beitragsbemessungsgrenzen auswirken und Haushalte mit hohen Einkommen davon profitieren, dass für ihr zusätzliches Einkommen keine zusätzlichen Beiträge abzuführen sind. Somit hat eine vierköpfige Familie mit zwei Erwerbstätigen und einem Jahresbrutto von knapp 155.000 Euro 2024 992 Euro mehr Kaufkraft als 2021. Singles mit Top-Einkommen von knapp 153.000 Euro konnten ihre Kaufkraft gegenüber 2021 um 2109 Euro steigern. Hier wirkt sich zusätzlich die deutlich unterdurchschnittliche haushaltsspezifische Inflationsrate aus. Deutliche Entlastungen und Zugewinne gibt es auch im unteren Einkommensbereich: Wer Vollzeit zum Mindestlohn arbeitet, hat 2024 1535 Euro mehr Kaufkraft zur Verfügung als 2021. Bei den meisten anderen Haushaltstypen ist der Kaufkrafteffekt ebenfalls positiv, aber weitaus geringer, sofern ihnen nicht der – allerdings zeitlich beschränkte – Effekt der Inflationsausgleichsprämien zugute kommt.

    Unter dem Strich attestieren Dullien, Rietzler und Tober, dass „die allermeisten Haushalte in Deutschland seit 2021 auch nach Berücksichtigung von Lohnerhöhungen zum Inflationsausgleich bei den Steuern und Abgaben in der Summe entlastet oder zumindest nicht zusätzlich belastet worden sind.“ Der Staat habe also keineswegs von der „kalten Progression“ in Zeiten hoher Inflation profitiert. Dass dabei Haushalte mit sehr hohen Einkommen vergleichsweise stark profitieren, während Mittelschichts-Familien Einbußen erleiden, bewerten die Forschenden allerdings als „Schieflage“. Wollte man den Nachteil für Familien ausgleichen, sei es am besten, über stärkere Erhöhungen beim Kindergeld nachzudenken. Weitere Änderungen des Einkommensteuertarifs, wie sie das Bundesfinanzministerium favorisiert, seien hingegen wenig zielgenau.


    Wissenschaftliche Ansprechpartner:

    Prof. Dr. Sebastian Dullien
    Wissenschaftlicher Direktor IMK
    Tel.: 0211-7778-331
    E-Mail: Sebastian-Dullien@boeckler.de

    Dr. Katja Rietzler
    IMK, Expertin für Fiskalpolitik
    Tel.: 0211-7778-576
    E-Mail: Katja-Rietzler@boeckler.de

    Dr. Silke Tober
    IMK, Expertin für Geldpolitik und für Inflation
    Tel.: 0211-7778-336
    E-Mail: Silke-Tober@boeckler.de

    Rainer Jung
    Leiter Pressestelle
    Tel.: 0211-7778-150
    E-Mail: Rainer-Jung@boeckler.de


    Originalpublikation:

    *Sebastian Dullien, Katja Rietzler, Silke Tober: Brutto- und Nettoeinkommen von Arbeitnehmendenhaushalten 2021-2024: Kaufkraftlücke vor allem bei Familien. Analyse staatlicher Entlastungsmaßnahmen, kalter Progression und Kaufkraftentwicklung während der Hochinflationsphase. IMK Policy Brief Nr. 173, Juli 2024: https://www.boeckler.de/de/faust-detail.htm?produkt=HBS-08911


    Weitere Informationen:

    https://www.boeckler.de/pdf/pm_imk_2024_07_18.pdf Die PM mit Abbildungen und Tabelle (pdf)


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten
    Gesellschaft, Politik, Wirtschaft
    überregional
    Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
    Deutsch


     

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