idw – Informationsdienst Wissenschaft

Nachrichten, Termine, Experten

Grafik: idw-Logo
Grafik: idw-Logo

idw - Informationsdienst
Wissenschaft

Science Video Project
idw-Abo

idw-News App:

AppStore

Google Play Store



Instanz:
Teilen: 
24.07.2024 13:04

Führen Videobeweise zu gerechteren Entscheidungen?

Carina Grewe Stabsstelle 2 – Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit
FernUniversität in Hagen

    War der Ball jetzt im Aus oder war er es nicht? Hat die Läuferin ihre Bahn verlassen? Das war doch ein verbotenes Handspiel, oder? Alles ging so schnell. Helfen kann dann ein Videobeweis. Mit Hilfe modernster Videotechnik können in vielen Sportarten Situationen noch einmal angeschaut und Entscheidungen untermauert oder revidiert werden. Das soll zu gerechteren Ergebnissen führen. Doch ist das auch wirklich so? Die FernUni-Psychologin Dr. Laura Sperl befasst sich mit der Wahrnehmung von Zeit.

    War der Ball jetzt im Aus oder war er es nicht? Hat die Läuferin ihre Bahn verlassen? Das war doch ein verbotenes Handspiel, oder? Alles ging so schnell. Helfen kann dann ein Videobeweis. Mit Hilfe modernster Videotechnik können in vielen Sportarten Situationen noch einmal angeschaut und Entscheidungen untermauert oder revidiert werden. Das soll zu gerechteren Ergebnissen führen. Doch ist das auch wirklich so?

    „Das kommt ganz darauf an, welche Handlung im Video noch einmal betrachtet wird“, sagt Dr. Laura Sperl. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Lehrgebiet Allgemeine Psychologie: Urteilen, Entscheiden, Handeln der FernUniversität in Hagen und schaut sich in ihrer Forschung unter anderem die Wahrnehmung von Zeit an.

    Zeitlupen führen häufig zu höheren Strafen

    In vielen Sportarten wie beispielsweise im Hockey, Tennis, in der Leichtathletik, im Fußball, im Football oder auch im Turnen kommen in Videobeweisen Techniken der Zeitmanipulation wie die Zeitlupe zum Einsatz. Ob Videobeweise zu mehr Fairness führen, hängt ganz von der Szene ab, die beurteilt wird. Geht es um die Entscheidung, ob ein Ball im Feld, im Aus oder im Tor war, ob ein technisches Element korrekt ausgeführt wurde oder wer zuerst die Ziellinie überquert hat, können Zeitlupen fraglos dabei helfen, korrektere Entscheidungen zu treffen. Geht es allerdings um ein Foul oder ein unerlaubtes Handspiel ist es fraglich, ob eine Zeitlupe immer zu einer faireren Entscheidung führt. Denn eine Zeitlupe beeinflusst die Wahrnehmung der Schiedsrichterin oder des Schiedsrichters. Sie oder er unterstellt dem Handelnden dann häufig eine höhere Absicht und bestraft die Person dadurch mitunter härter.

    Zeitmanipulation beeinflusst die Wahrnehmung

    Laura Sperl versucht durch ihre Forschung zu verstehen, wie dieser Effekt zustande kommt. „Zeitlupen oder Zeitraffer helfen uns dabei, Dinge zu erkennen, die in Originalgeschwindigkeit nur schwer zu erfassen sind“, erklärt die Psychologin. Videos können in normaler Geschwindigkeit, schneller oder auch langsamer abgespielt werden. Hilft ein Zeitraffer beispielsweise dabei, eine Pflanze wachsen zu sehen, können wir in Zeitlupenaufnahmen Details entdecken, die uns in realer Geschwindigkeit verborgen geblieben wären. Durch diese beiden Techniken können Menschen mehr sehen und erkennen, als sie es eigentlich könnten. Wir nehmen die Dinge also anders wahr als in der realen Geschwindigkeit.

    Um herauszufinden, welchen Einfluss das auf uns hat, haben Laura Sperl und Kolleginnen und Kollegen der Universitäten Jena und Gießen in verschiedenen Experimenten Probandinnen und Probanden Szenen, darunter auch viele Sportszenen, entweder in Zeitlupe, Zeitraffer oder in normaler Geschwindigkeit gezeigt. Die Teilnehmenden sollten die zeitliche Komponente, also die Videogeschwindigkeit oder Dauer, oder die Absicht der Handelnden beurteilen.

    Der Effekt von Zeitlupen

    „Wir haben festgestellt, dass die Probandinnen und Probanden nur sehr schwer einschätzen konnten, wie sehr ein Video in seiner Geschwindigkeit verändert wurde.“ War eine Szene beispielsweise in der Realität zwei Sekunden lang und in der Zeitlupe acht, haben die Teilnehmenden die Originalszene in der Regel länger als zwei Sekunden eingeschätzt. Diese Diskrepanz lässt sich präzise feststellen. Denn Zeit ist eine gut messbare Größe.

    Anders sieht es hingegen mit der Absicht aus. Diese lässt sich nicht exakt messen. „Die Experimente haben gezeigt, dass Handelnden unbewusst mehr Absicht unterstellt wird, wenn man Szenen in Zeitlupe anschaut. Es wird angenommen, dass die Betrachtenden den fälschlichen Eindruck bekommen, dass den Handelnden mehr Zeit zur Verfügung stand und sie dadurch ihre Handlung planen. Sie scheinen zwischen mehreren Entscheidungsoptionen abgewogen und sich bewusst für diese eine entschieden zu haben.“ Im Falle eines Fouls also zum Beispiel bewusst dafür, den Ellenbogen Richtung Gegner auszufahren.

    „In unserer Forschung können wir zwar feststellen, dass den Handelnden in Zeitlupe mehr Absicht unterstellt wird. Ob die ‚echte‘ Intentionalität jedoch besser in der Zeitlupe oder in der realen Geschwindigkeit zu erkennen war, können wir nicht sagen“, erklärt die Psychologin.

    Weitere Forschung geplant

    Interessant ist auch der Aspekt, dass die Probandinnen und Probanden die Absicht in Zeitlupenaufnahmen immer noch höher einschätzten, wenn ihnen bekannt war, wie stark die Szene verlangsamt wurde. „Wir versuchen gerade zu verstehen, warum das Gehirn anscheinend zwar die Zeit umrechnen kann, die Absicht aber nicht.“ Dafür möchte Laura Sperl weitere Grundlagenforschung betreiben: „Wir möchten einen Schritt zurückgehen und verstehen, wie diese Bias entstehen und wie das Gehirn mit unterschiedlichen Videogeschwindigkeiten umgeht.“

    Dafür sind vor allem weitere Experimente geplant. Unter anderem führt die Wissenschaftlerin dabei auch Studien gemeinsam mit FernUni-Studierenden durch. Als Lehrkraft für besondere Aufgaben betreut Laura Sperl im Bachelor Psychologie das empirisch-experimentelle Praktikum. „Die Studierenden haben in der Regel sehr große Freude daran, empirische Forschungsprojekte zu begleiten. Das ist für mich eine wunderbare Symbiose aus Forschung und Lehre.“

    Take-Home-Message

    Für die Olympischen Spiele gibt die Psychologin folgenden Tipp: „Man sollte sich bei Videobeweisen immer bewusst machen, dass es diesen Bias bei Zeitlupen gibt.“ Das gilt für Laien vor dem Fernseher genauso wie für Expertinnen und Experten in den Sportverbänden, die in den jeweiligen Situationen entscheiden oder auch die Regelwerke erstellen.


    Wissenschaftliche Ansprechpartner:

    Dr. Laura Sperl
    Lehrgebiet Allgemeine Psychologie: Urteilen, Entscheiden, Handeln
    laura.sperl@fernuni-hagen.de


    Originalpublikation:

    https://doi.org/10.1177/03010066221139943
    https://doi.org/10.1177%2F0301006620982212


    Bilder

    Dr. Laura Sperl
    Dr. Laura Sperl
    privat
    Laura Sperl


    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten, jedermann
    Psychologie, Sportwissenschaft
    überregional
    Forschungsergebnisse, Forschungsprojekte
    Deutsch


     

    Hilfe

    Die Suche / Erweiterte Suche im idw-Archiv
    Verknüpfungen

    Sie können Suchbegriffe mit und, oder und / oder nicht verknüpfen, z. B. Philo nicht logie.

    Klammern

    Verknüpfungen können Sie mit Klammern voneinander trennen, z. B. (Philo nicht logie) oder (Psycho und logie).

    Wortgruppen

    Zusammenhängende Worte werden als Wortgruppe gesucht, wenn Sie sie in Anführungsstriche setzen, z. B. „Bundesrepublik Deutschland“.

    Auswahlkriterien

    Die Erweiterte Suche können Sie auch nutzen, ohne Suchbegriffe einzugeben. Sie orientiert sich dann an den Kriterien, die Sie ausgewählt haben (z. B. nach dem Land oder dem Sachgebiet).

    Haben Sie in einer Kategorie kein Kriterium ausgewählt, wird die gesamte Kategorie durchsucht (z.B. alle Sachgebiete oder alle Länder).