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29.10.2024 14:00

„Sich das Gehirn wegsaufen“ – leider mehr als nur ein Spruch

Dr. Bettina Albers Pressestelle der DGN
Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V.

    Alkohol ist gesellschaftlich akzeptiert, auch wenn der Mythos vom „gesunden Gläschen Wein“ nicht mehr länger zu halten ist. Gerade die Auswirkungen einer Alkoholsucht auf das Gehirn sind katastrophal, Menschen mit „Trinkerkarrieren“ erreichen bereits in mittleren Lebensjahren demenzähnliche Zustände mit z. T. komplettem Verlust der Selbstautonomie. Denn Alkohol schädigt Nervenzellen über verschiedene Mechanismen. Diese Gefahr des Alkoholkonsums wird nur selten thematisiert, da Betroffene nicht an den neurologischen Folgen, sondern an Leberversagen oder Krebs sterben. Das Thema „Gehirn und Alkohol“ ist auch ein Thema einer Veranstaltung der Deutschen Hirnstiftung auf dem DGN-Kongress.

    Alkoholkonsum – zu hoch und immer noch gesellschaftlich akzeptiert
    Laut Angaben des Bundesministeriums für Gesundheit [1] konsumieren 7,9 Millionen Menschen der 18- bis 64-jährigen Bevölkerung in Deutschland Alkohol sogar in gesundheitlich riskanter Menge . Der Gesamtkonsum an reinem Alkohol (Liter pro Kopf) ist in den Jahren zwischen 2010 und 2020 zwar zurückgegangen (von 11,6 auf 10,6 l), doch im „DHS Jahrbuch Sucht 2024“ [2] ist nachzulesen: „Der Gesamtverbrauch an alkoholischen Getränken stieg im Jahr 2022 gegenüber dem Vorjahr (2021: 118,5 l) um 1,4 % (1,6 Liter) auf 120,1 Liter Fertigprodukt pro Kopf der Bevölkerung.“ Auch wenn der Trend offensichtlich zu weniger hochprozentigen alkoholischen Getränken geht, ist der Konsum zu hoch, regelmäßig und offensichtlich unbedacht.

    Gut für die Gesundheit? Ein Mythos …
    Woher kommt diese unkritische Einstellung? Es gab eine Reihe epidemiologischer Studien, die eine sogenannte J-Kurve zeigten; d. h. Menschen, die „null Alkohol“ konsumierten, hatten eine höhere Sterblichkeit als die, die einen moderaten Alkoholkonsum angaben. Bei höheren Alkoholmengen stieg das Sterberisiko dann deutlich an. Dann kam aber heraus, dass unter den Personen, die einen „Null-Alkohol-Konsum“ angegeben hatten, viele abstinente Ex-Alkoholkranke waren, sodass die „J-Kurve“ das Produkt einer methodischen Verfälschung war. Eliminierte man diesen Fehler, stieg die Risikokurve auch bei kleinen Alkoholmengen schon an. Damit ist der Mythos, ein „bisschen“ Alkohol sei besser als Abstinenz, definitiv vom Tisch.

    Alkohol schädigt Nerven und Gehirn – die zugrunde liegenden Mechanismen
    Bekannt ist, dass Alkohol süchtig machen kann, die Leber schädigt und auch das Krebsrisiko erhöht. Aber kaum jemand spricht von den Folgen von Alkohol auf die Nerven und das Gehirn. Wie sehr Alkohol die Nerven schädigt, wird klar, wenn man betrunken ist: Man reagiert verlangsamt, hat eine gestörte Koordination und später dann Erinnerungslücken. Dies gibt bereits einen Vorgeschmack auf die potenziellen Langzeitschäden von Alkohol für das Nervensystem. Die neurotoxische Wirkung von Alkohol wird über verschiedene Wirkweisen vermittelt [3]:

    - Thiaminmangel
    Thiamin, auch bekannt als Vitamin B1, ist entscheidend für gesunde Nerven, denn es wird zur Bildung von Nukleinsäuren und Neurotransmittern benötigt. Der Körper ist nicht in der Lage, Thiamin selbst zu produzieren, es muss mit der Nahrung aufgenommen werden. Alkoholabhängige Menschen sind oft mangelernährt und nehmen per se zu wenig Thiamin auf [4]. Es gab sogar schon Versuche, Thiamin dem Bier beizusetzen. Doch der Effekt ist gering, denn Alkohol unterbindet die Thiaminaufnahme und -verwertung im Körper. So gelingt die Aufnahme dieses B-Vitamins aus dem Darm nicht mehr, weil dafür sowohl Energie als auch ein normaler pH-Wert benötigt wird [5, 6], Letzterer ist bei Alkoholismus reduziert. Darüber hinaus behindert Alkohol die Fähigkeit der Zellen, Thiamin zu verwerten. Die sogenannte Thiaminpyrophosphokinase wird durch Alkohol gehemmt [7].

    - Bildung von Acetaldehyd, einem Nervengift
    Alkohol wird im Körper zu Acetaldehyd verstoffwechselt. Dieses Abbauprodukt von Ethanol führt dosisabhängig zum Absterben von Nervenzellen (neuronaler Zelltod). Chronischer Alkoholkonsum führt daher zu neuronaler Degeneration [8].

    - Neuroinflammation
    Alkohol führt zur Entzündung von Nervengewebe. Er erhöht die Zahl entzündungsfördernder Zytokine, die die Blut-Hirn-Schranke (BHS) überwinden und Entzündungen im Gehirn verursachen können [9]. Auch begünstigt er die Inflammation durch Verschiebung der Neurotransmitterspiegel. So ist beispielsweise bekannt, dass Alkohol den Glutamatspiegel über die Hemmung des N-Methyl-D-Aspartat (NMDA)-Rezeptors erhöht [9]. Hohe Konzentrationen von Glutamat im Gehirn können neurotoxisch wirken und neuronale Schäden verursachen. Alkohol kann auch über die Aktivierung von Neuroimmunzellen (Mikroglia und Astrozyten) direkt eine neuronale Entzündung auslösen, die einen weiteren neurotoxischen Faktor darstellt [10].

    - Lebervermittelte Schädigung der Gehirnzellen
    Wenn es durch Alkoholmissbrauch zu einer Leberschädigung kommt, führen die dann anfallenden neurotoxischen Substanzen wiederum zu einer Gehirnschädigung („hepatische Enzephalopathie“). Damit ist das Gehirn auch indirekt ein Opfer der organbedingten Alkoholschäden [11, 12].

    Alkoholassoziierte Erkrankungen von Gehirn und Nerven
    Häufig unterschätzt, weil im Krankheitsbild zunächst wenig „imposant“, ist die Polyneuropathie. Sie entsteht durch Schädigung der peripheren Nerven durch den Alkohol. Sie kann auch andere Gründe haben (z. B. Diabetes), bei etwa jedem fünften Betroffenen ist sie allerdings alkoholbedingt. Anfänglich äußert sie sich durch ein unangenehmes Kribbeln in den Beinen, im Vollbild bringt sie Dauerschmerzen mit sich und beeinträchtigt die Lebensqualität enorm. Viele Menschen mit Alkoholproblemen sind früher oder später betroffen (Schätzungen zufolge zwischen 22 und 66 %).

    Die neurologischen Folgekrankheiten und Syndrome eines erhöhten Alkoholkonsums, die durch Schädigungen der Nervenzellen des zentralen Nervensystems entstehen, ähneln den typischen Symptomen der Betrunkenheit, sind allerdings dann chronisch. Beim Korsakow-Syndrom oder dem extrem seltenen Marchiafava-Bignami-Syndrom beispielsweise nehmen die kognitiven Fähigkeiten ab, es kommt zu Sprachstörungen, unkontrollierten Bewegungen – und im Endstadium zu einer Demenz (siehe Beschreibung der Krankheitsbilder im Anhang).

    „Alles in allem kann man sagen, dass die neurologischen Langzeitfolgen des Alkoholkonsums enorm sind. Sie treten oft nicht in Erscheinung, weil sie natürlich zusammen mit anderen alkoholinduzierten Krankheiten auftreten, die meistens als Todesursache im Vordergrund stehen. Verstirbt ein Alkoholiker an einer Leberzirrhose, bleibt in den Köpfen hängen, dass Alkohol die Leber schädigt, selbst wenn der Betroffene über viele Jahre zuvor an einer Alkoholdemenz litt“, erklärt Prof. Frank Erbguth, Präsident der Deutschen Hirnstiftung. „Unser Anliegen ist es deshalb, die Gefahren des Alkohols auf Nerven und Gehirn bekannter zu machen – denn, um es einmal plakativ auf den Punkt zu bringen: Ja, man kann sich tatsächlich sein Gehirn wegsaufen.“

    Veranstaltung der Deutschen Hirnstiftung auf dem DGN-Kongress:
    Flyin’ high – Drogen und Gehirn
    Donnerstag, 7. November 2024, 16:30–18:00 Uhr

    [1] https://www.bundesgesundheitsministerium.de/service/begriffe-von-a-z/a/alkohol
    [2] Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V. Das DHS Jahrbuch Sucht 2024. Abrufbar unter: https://www.dhs.de/service/presse/pressemeldungen/meldung/dhs-jahrbuch-sucht-202...
    [3] Nutt D, Hayes A, Fonville L, Zafar R, Palmer EOC, Paterson L, Lingford-Hughes A. Alcohol and the Brain. Nutrients. 2021 Nov 4;13(11):3938. doi: 10.3390/nu13113938. PMID: 34836193; PMCID: PMC8625009.
    [4] Thomson AD, Baker H, Leevy CM. Patterns of 35S-thiamine hydrochloride absorption in the malnourished alcoholic patient. J Lab Clin Med. 1970 Jul;76(1):34-45. PMID: 4912963.
    [5] Reidling JC, Said HM. Adaptive regulation of intestinal thiamin uptake: molecular mechanism using wild-type and transgenic mice carrying hTHTR-1 and -2 promoters. Am J Physiol Gastrointest Liver Physiol. 2005 Jun;288(6):G1127-34. doi: 10.1152/ajpgi.00539.2004. Epub 2005 Feb 10. PMID: 15705657.
    [6] Thomson AD, Marshall EJ. The natural history and pathophysiology of Wernicke's Encephalopathy and Korsakoff's Psychosis. Alcohol Alcohol. 2006 Mar-Apr;41(2):151-8. doi: 10.1093/alcalc/agh249. Epub 2005 Dec 29. PMID: 16384871.
    [7] Takeuchi M, Saito T. Cytotoxicity of acetaldehyde-derived advanced glycation end-products (AA-AGE) in alcoholic-induced neuronal degeneration. Alcohol Clin Exp Res. 2005 Dec;29(12 Suppl):220S-4S. doi: 10.1097/01.alc.0000190657.97988.c7. PMID: 16385226.
    [8] He J, Crews FT. Increased MCP-1 and microglia in various regions of the human alcoholic brain. Exp Neurol. 2008 Apr;210(2):349-58. doi: 10.1016/j.expneurol.2007.11.017. Epub 2007 Dec 3. PMID: 18190912; PMCID: PMC2346541.
    [9] Lovinger DM, White G, Weight FF. Ethanol inhibits NMDA-activated ion current in hippocampal neurons. Science. 1989 Mar 31;243(4899):1721-4. doi: 10.1126/science.2467382. PMID: 2467382.
    [10] Crews FT, Sarkar DK, Qin L, Zou J, Boyadjieva N, Vetreno RP. Neuroimmune Function and the Consequences of Alcohol Exposure. Alcohol Res. 2015;37(2):331-41, 344-51. PMID: 26695754; PMCID: PMC4590627.
    [11] Davis BC, Bajaj JS. Effects of Alcohol on the Brain in Cirrhosis: Beyond Hepatic Encephalopathy. Alcohol Clin Exp Res. 2018 Apr;42(4):660-667. doi: 10.1111/acer.13605. Epub 2018 Feb 27. PMID: 29417604.
    [12] Erbguth F, Lange R. Alkoholenzephalopathie. In: Diener HC, Steinmetz H, Kastrup O. Referenz Neurologie. S. 1077-1081. Georg Thieme Verlag Stuttgart.

    Pressekontakt
    Pressestelle der Deutschen Gesellschaft für Neurologie
    Pressesprecher: Prof. Dr. med. Peter Berlit
    Leiterin der DGN-Pressestelle: Dr. Bettina Albers
    Tel.: +49(0)30 531 437 959
    E-Mail: presse@dgn.org

    Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V. (DGN)
    sieht sich als wissenschaftliche Fachgesellschaft in der gesellschaftlichen Verantwortung, mit ihren mehr als 12.700 Mitgliedern die neurologische Krankenversorgung in Deutschland zu sichern und zu verbessern. Dafür fördert die DGN Wissenschaft und Forschung sowie Lehre, Fort- und Weiterbildung in der Neurologie. Sie beteiligt sich an der gesundheitspolitischen Diskussion. Die DGN wurde im Jahr 1907 in Dresden gegründet. Sitz der Geschäftsstelle ist Berlin. www.dgn.org

    Präsident: Prof. Dr. med. Lars Timmermann
    Stellvertretende Präsidentin: Prof. Dr. med. Daniela Berg
    Past-Präsident: Prof. Dr. med. Christian Gerloff
    Generalsekretär: Prof. Dr. med. Peter Berlit
    Geschäftsführer: David Friedrich-Schmidt
    Geschäftsstelle: Friedrichstraße 88, 10117 Berlin, Tel.: +49 (0)30 531437930, E-Mail: info@dgn.org


    Weitere Informationen:

    https://dgn.org/dgn-kongress


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten
    Ernährung / Gesundheit / Pflege, Medizin
    überregional
    Forschungs- / Wissenstransfer, Wissenschaftliche Tagungen
    Deutsch


     

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