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Wissenschaft
Wohlstandmessung mit sozialen und ökologischen Kriterien
Nationaler Wohlfahrtsindex für 2023 im Plus – allerdings auch wegen sinkenden Energieverbrauchs infolge wirtschaftlicher Schwäche
Der Nationale Wohlfahrtsindex, ein Indikator zur Wohlstandsmessung über das Wirtschaftswachstum hinaus, ist im vergangenen Jahr um knapp drei Prozent gestiegen.* Maßgeblich für den Anstieg verantwortlich sind gesunkene Umweltkosten, die wiederum zu einem großen Teil auf einen rückläufigen Energieverbrauch zurückzuführen sind.
Dahinter stecken aber nicht nur positive Trends, sondern auch die schwache wirtschaftliche Entwicklung, die gleichzeitig Jobs bedroht. Zudem gibt es Indizien dafür, dass anderswo in der Welt Produktion und Energieverbrauch entsprechend hochgefahren wurden. Das macht deutlich, wie wichtig es ist, bei der Transformation Ökologie, sozialen Fortschritt und gute Beschäftigung in eine Balance zu bringen.
Seit der Jahrtausendwende ist Deutschlands reales Bruttoinlandsprodukt (BIP) um etwa 28 Prozent gewachsen. Das heißt, die in Euro berechnete, um Preissteigerungen bereinigte Summe aller pro Jahr hergestellten Produkte und erbrachten Dienstleistungen hat entsprechend zugenommen. Der vom Heidelberger Institut für Interdisziplinäre Forschung (FEST) mit Förderung des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung berechnete Nationale Wohlfahrtsindex (NWI) hat im selben Zeitraum nur um rund neun Prozent zugelegt. Das liegt daran, dass der NWI den Wohlstand nicht anhand der Wirtschaftsleistung misst, sondern in Form aufsummierter Konsumausgaben und viele weitere Faktoren einbezieht, etwa auch Umweltbelastungen wie CO2-Emissionen, die Verteilung der Einkommen, unbezahlte Arbeit, Unfälle und Naturkatastrophen. Aus der Differenz zwischen BIP und NWI lässt sich ablesen: Der Wohlstand in Deutschland hat sich in den vergangenen Jahrzehnten weniger verbessert, als die Zunahme der Wirtschaftsleistung suggeriert. Beispielsweise, weil Einkommen zwar wuchsen, aber zunehmend ungleich verteilt waren oder Produktionssteigerungen zulasten der Umwelt gingen.
Nun liegt der NWI-Wert für 2023 vor – es dauert immer eine Weile, bis alle nötigen statistischen Daten verfügbar sind – und es zeigt sich: Im vergangenen Jahr war es anders als in der langfristigen Betrachtung. Der alternative Wohlstandsindikator stieg um knapp drei Prozent, obwohl die Wirtschaftsleistung leicht rückläufig war. Die FEST-Forschenden Dr. Benjamin Held und Dorothee Rodenhäuser, die den NWI berechnet haben, erklären das so: Entscheidend für den Zuwachs beim NWI waren sinkende Umweltkosten durch rückläufigen Energieverbrauch. Zum Teil liegt das am Ausbau erneuerbarer Energien, an Einsparungen und effizienterer Technik. Der Löwenanteil erklärt sich jedoch schlicht durch Produktionsrückgänge. So haben gerade die energieintensiven Industrien zehn Prozent weniger hergestellt als 2022. Die Forschenden ordnen diesen Rückgang beim Energieverbrauch hinsichtlich seiner Nachhaltigkeit deswegen auch kritisch ein: Wenn „Produktionskapazitäten in ungeplanter Weise nicht genutzt“ würden, sei es wahrscheinlich, dass zum Teil nur eine Verlagerung der Emissionen stattfinde – in die Zukunft oder ins Ausland. So ging beispielsweise die Stahlproduktion in Deutschland zurück, während sie in Indien zunahm. Wichtig für eine gelingende Transformation seien deswegen „verlässliche Rahmenbedingungen“, die „darauf planbar basierende Entscheidungsprozesse“ ermöglichten.
Für mehr Wohlstand laut NWI gesorgt haben 2023 zudem leicht gestiegene Konsumausgaben sowie eine Zunahme der unbezahlten Arbeit im Haushalt. Ebenfalls positiv wirkte sich ein leichter Rückgang bei den „Kosten der Ungleichheit“ aus, die auf Basis der Einkommensungleichheit berechnet werden. Allerdings liegen die Kosten der Ungleichheit weiter auf sehr hohem Niveau und stellen – in der langfristigen Betrachtung – den zentralen Grund der im Vergleich zum BIP seit 1991 deutlich schwächeren Entwicklung des NWI dar. Dass die Einkommensdifferenzen im Jahr 2023 nun trotz Inflation und wirtschaftlicher Flaute leicht zurückgingen und nicht angestiegen sind, dürfte an „Tarifabschlüssen mit substanziellen Lohnerhöhungen“, der Erhöhung von Mindestlohn und Bürgergeld und Instrumenten wie dem Kurzarbeitsgeld liegen, so die Forschenden. Und: Verglichen mit dem Vorjahr gab es Held und Rodenhäuser zufolge kaum „stärkere wohlfahrtsmindernde Effekte“. Lediglich die Posten Verkehrsunfälle, Kriminalität und Naturkatastrophen weisen leichte Zuwächse auf.
-Dullien: „Bei Transformation der Wirtschaft darauf achten, dass gute Jobs erhalten und geschaffen und Kosten fair verteilt werden“-
Wie der NWI 2024 ausfallen wird, ist noch ungewiss. Dennoch geben die Forschenden einen ersten Ausblick: Etwas höhere Konsumausgaben im ersten Halbjahr sprechen für einen weiteren Anstieg. Ebenso ein erneuter Rückgang des Primärenergieverbrauchs, besonders von Kohle. Wobei sieben von 17 Millionen Tonnen im Vergleich zum Vorjahr weniger ausgestoßenem CO2 allein auf die Witterung, also einen geringeren Bedarf an Heizenergie, zurückgehen. Offen ist, wie sich die Dinge im zweiten Halbjahr weiterentwickeln.
Unklar ist aus Sicht der Forschenden auch, ob sich die Ungleichheit im laufenden Jahr am Ende positiv oder negativ entwickelt. Auf der Habenseite stehen beachtliche Reallohnsteigerungen im zweiten Quartal und ein zu Jahresanfang merklich gestiegenes Bürgergeld. Auf der Sollseite ist 2024 nur eine geringe Mindestlohnerhöhung, die bei Betroffenen zu realen Verlusten führte, zu verzeichnen.
Klar ist hingegen bereits jetzt: Die Gesamtkosten für Naturkatastrophen werden 2024 höher sein als im Vorjahr. Dabei stehe die Entwicklung in Deutschland in einem global krisenhaften Kontext, so Held und Rodenhäuser, der zuletzt auch hierzulande immer greifbarer geworden ist und Gefahren durch Klimawandel, eskalierende kriegerische Konflikte und wirtschaftliche Abhängigkeiten umfasst.
Angesichts dieser Gemengelage reiche eine Politik, die nur das BIP im Blick hat, nicht aus. Ein breiterer Ansatz sei nötig, der ökologische Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit maßgeblich mitberücksichtigt. „Denn nur, wenn innerhalb der planetaren Grenzen gewirtschaftet wird, das gesellschaftliche Fundament für möglichst alle Menschen gesichert und der gesellschaftliche Zusammenhalt nicht durch zu große Ungleichheiten gefährdet ist, scheint ein freiheitliches und friedliches Zusammenleben langfristig denk- und erreichbar“, schreiben die FEST-Forschenden. Konkret sei es dafür zunächst nötig, „bei der Transformation der Wirtschaft darauf zu achten, dass gute Jobs erhalten und geschaffen werden und die Kosten fair verteilt werden“, sagt IMK-Direktor Prof. Dr. Sebastian Dullien.
Dr. Tom Bauermann
IMK-Experte für die Makroökonomie der sozial-ökologischen Transformation
Tel.: 0211-7778-343
E-Mail: Tom-Bauermann@boeckler.de
Rainer Jung
Leiter Pressestelle
Tel.: 0211-7778-150
E-Mail: Rainer-Jung@boeckler.de
*Benjamin Held, Dorothee Rodenhäuser: NWI2024 – Anstieg bei unterschiedlicher Entwicklung von Umweltschäden, Konsum und Ungleichheit. IMK Study Nr. 96, Dezember 2024. Download: https://www.boeckler.de/de/faust-detail.htm?produkt=HBS-009007
Merkmale dieser Pressemitteilung:
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Gesellschaft, Politik, Wirtschaft
überregional
Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch
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