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Wissenschaft
Die Blackbox des menschlichen Gehirns beginnt sich zu öffnen. Obwohl Tiermodelle für unser Verständnis des Säugetiergehirns von entscheidender Bedeutung sind, decken die seltener erhobenen menschlichen Daten wichtige Besonderheiten auf. In einer in Cell veröffentlichten Arbeit hat ein Team unter der Leitung der Jonas Gruppe am Institute of Science and Technology Austria (ISTA) und Neurochirurgen der Medizinischen Universität Wien Licht in die menschliche Hippocampus-Region CA3 gebracht, die für die Gedächtnisspeicherung zentral ist.
Viele von uns haben magische Momente mit Oma oder Opa am Kamin genossen: Man lauschte den spannenden Geschichten aus der guten alten Zeit, die sie mit lebhaften Bildern und einer Prise Fantasie erzählten. Unser menschliches Gehirn verfügt über die bemerkenswerte Fähigkeit, Erinnerungen ein Leben lang zu speichern und wiederzugeben. Ein physischer Raum, eine vertraute Situation oder auch ein Geruch allein können eine Erinnerung hervorrufen, und unser Gehirn verknüpft diese Informationen, um das Muster der Erinnerung zu vervollständigen. Obwohl das menschliche Gehirn für diesen Zweck optimiert ist, beginnen wir gerade erst zu verstehen, wie es Informationen über unsere Umgebung integriert. Dieser Prozess der Mustervervollständigung ist eine bemerkenswerte Verarbeitungsfähigkeit unseres Gehirns, die als assoziatives Gedächtnis bezeichnet wird.
Der Großteil unseres neurowissenschaftlichen Wissens über das Gehirn stammt von gut untersuchten Tiermodellen wie Nagetieren, die für die Wissenschaft unverzichtbar sind. Aber ist das menschliche Gehirn einfach nur eine vergrößerte Version des Mäusegehirns, oder hat es besondere Merkmale, die es menschlich machen? Forschende des Institute of Science and Technology Austria (ISTA) und Neurochirurgen der Medizinischen Universität Wien beleuchten nun, wie das menschliche Gehirn assoziative Erinnerungen speichert und abruft. Peter Jonas, Magdalena Walz Professor for Life Sciences am ISTA, und der Postdoktorand Jake Watson initiierten die Zusammenarbeit mit Professor Karl Rössler von der Universitätsklinik für Neurochirurgie der Medizinischen Universität Wien, und untersuchten Proben von Epilepsie-Patient:innen, die sich einem neurochirurgischen Eingriff unterzogen hatten. Durch diese Kooperation konnten sie Erkenntnisse direkt aus intaktem, lebendem menschlichem Gewebe gewinnen.
Menschen haben kein „großes Mäuse-Gehirn“
Der Hippocampus ist das Zentrum für Lernen und assoziatives Gedächtnis im Gehirn. Eine Region namens CA3 im Hippocampus speichert und verarbeitet Informationen und vervollständigt Muster. Da es selten möglich ist, gesundes menschliches Material zu nutzen, haben sich die meisten Studien bisher auf Tiermodelle konzentriert. Jonas und Watson lösten dieses Problem, indem sie mit Rössler kooperierten, einem Neurochirurgen, der sich auf behandlungsresistente Epilepsieformen spezialisiert hat. „Während Patient:innen, die sich einem neurochirurgischen Eingriff unterziehen, eine große Bandbreite an klinischen Erscheinungsbildern aufweisen, identifizierte Prof. Rössler eine Untergruppe von Epilepsiepatient:innen, die einen intakten Hippocampus aufweisen“, sagt Jonas. Diese Chance konnten sich die Wissenschafter:innen nicht entgehen lassen. „Bei dieser Form der Epilepsie ist eine einseitige Entfernung des Hippocampus notwendig, damit die Patient:innen eine Chance haben, zu gesunden und ein epilepsiefreies Leben zu führen“, erklärt Jonas. So konnte das Team von 17 Epilepsie-Patient:innen, mit deren Einverständnis, intaktes Hippocampus-Gewebe gewinnen.
Die Forscher:innen kombinierten Modellierung mit modernsten experimentellen Techniken – multizelluläre Patch-Clamp-Technik zur Messung dynamischer funktioneller Eigenschaften von Neuronen, und superauflösende Mikroskopie. So kamen sie zu erstaunlichen Ergebnissen. Sie zeigten, dass der menschliche Hippocampus weit davon entfernt ist, eine vergrößerte Version des gut untersuchten Mäusehippocampus zu sein. Tatsächlich war die neuronale Konnektivität in der menschlichen CA3-Region spärlicher, und ihre Synapsen – die Verbindungen, die die Weiterleitung von Signalen zwischen den Neuronen ermöglichen – schienen zuverlässiger und präziser zu sein. Auf diese Weise entdeckte das Team besondere Eigenschaften der Verdrahtung des menschlichen Gehirns.
„Wir hatten das Gefühl, nichts zu wissen“
Trotz der besonderen Zellstruktur und synaptische Konnektivität des menschlichen Hippocampus bleiben Daten aus Tiermodellen nach wie vor sehr wichtig. Sie dienen als Referenz und helfen den Forschenden, die Technologie für die Untersuchung von menschlichem Gewebe zu entwickeln. „Wenn man mit Nagetieren arbeitet, hat man manchmal das Gefühl, dass alles über den Hippocampus bereits bekannt ist“, sagt Watson. „Sobald ich angefangen habe, die ersten Proben zu untersuchen, wurde mir klar, wie wenig wir über den menschlichen Hippocampus wussten. Obwohl dies die am besten untersuchte Region des Gehirns bei Nagetieren ist, hatten wir das Gefühl, dass wir nichts über die menschliche Physiologie, die zelluläre Organisation oder die Konnektivität wussten.“ Basierend auf ihren Erfahrungen mit dem Hippocampusgewebe von Nagetieren mussten Watson und Jonas daher neue Wege finden, um diesen Teil des Gehirns beim Menschen zu untersuchen.
Modellierung der Rechenleistung des menschlichen Gehirns
Anhand ihrer experimentellen Daten zielte das Team darauf ab, ein Modell der Rechenleistung des CA3-Netzwerks im menschlichen Hippocampus zu erstellen. Sie erkannten, dass die humanspezifischen Schaltkreise und die synaptische Konnektivität es ihnen ermöglichten, das Ausmaß zu messen, in dem Erinnerungen zuverlässig gespeichert und abgerufen wurden. „Wir konnten testen, wie viele Muster in dieses Modell passen. So konnten wir nachweisen, dass die humanspezifische spärliche synaptische Konnektivität und die erhöhte synaptische Zuverlässigkeit die Speicherkapazität erhöhen“, sagt Jonas. Mit anderen Worten: Sie haben herausgefunden, wie das menschliche CA3-Netzwerk Informationen effizient kodiert, um die Speicherung und Verknüpfung von Erinnerungen zu maximieren.
Der schönste Tag in der Karriere eines Physiologen
Die vorliegende Studie trägt dazu bei, die Art und Weise zu verändern, wie Wissenschafter:innen und Mediziner:innen das menschliche Gehirn wahrnehmen. „Unsere Arbeit unterstreicht die Notwendigkeit, unser Verständnis des Gehirns in Bezug auf Menschen zu überdenken. Künftige Forschungen zu den Schaltkreisen des Gehirns, auch wenn sie mit Nagetieren durchgeführt werden, müssen das menschliche Gehirn im Blick haben“, sagt Jonas. Diese Arbeit ist das Ergebnis einer Synergie zwischen dem richtigen Neurochirurgen und den richtigen Physiologen, unterstreichen Jonas und Watson. „Prof. Rössler ist sehr an der Förderung der Grundlagenforschung interessiert und hat ausgefeilte Techniken entwickelt, um Patient:innengewebe in bestmöglichem Zustand für Laboruntersuchungen zu gewinnen“, betont Watson. Diese Zusammenarbeit hat den ISTA-Forschenden Zugang zu einer knappen Ressource in der Wissenschaft verschafft: intaktes, lebendes menschliches Hirngewebe. Da die Verfügbarkeit von Gewebe von den Operationen abhing, erhielte das Team nur sporadisch alle paar Monate neues biologisches Material. Dies wirkte sich auf die Logistik ihres Labors aus: Oft mussten sie alle Projekte, bei denen nicht-menschliches Material verwendet wurde, kurzfristig unterbrechen und den Laborraum räumen, um die frischen menschlichen Proben zu empfangen und zu untersuchen. „Es kam mir surreal vor, wenn ich daran dachte, dass die Epilepsiepatientin, die am selben Morgen neurochirurgisch operiert wurde, sich im Krankenhaus erholte, während wir einen intakten und lebenden Gewebeschnipsel aus ihrem Gehirn untersuchten“, sagt Watson. „Rückblickend war der schönste Tag in meiner Karriere als Physiologe, als die ersten menschlichen Gewebe in unserem Labor eintrafen.“
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Informationen zur Finanzierung
Dieses Projekt wurde durch Mittel aus dem Europäischen Forschungsrat (ERC) im Rahmen des Horizon 2020 Forschungs- und Innovationsprogramms der Europäischen Union (Advanced Grant Nr. 692692; Marie Skłodowska-Curie Actions Individual Fellowship Nr. 101026635), dem Österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF; Grant PAT 4178023; Grant DK W1232), der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (DOC Fellowship 26137) und einem NOMIS-ISTA Fellowship finanziert.
Informationen über Gewebeproben menschlicher Patient:innen
Menschliche Gewebeproben wurden mit Einverständniserklärung von 17 Personen mit Temporallappenepilepsie gewonnen. Diese Arbeit wurde von der Ethikkommission der Medizinischen Universität Wien (MUW) genehmigt (EK Nr: 2271/2021). Weitere Informationen finden Sie unter “Experimental model and study participant details“ in der Publikation.
Informationen über menschliche postmortale Gewebeproben
Drei Blöcke (jeweils ca. 1 cm3) postmortalen Gewebes wurden aus der Biobank Normal Ageing Brain Collection Amsterdam (NABCA) gewonnen (Projektvereinbarung METC: 2023.0733; Antrag der ISTA-Ethikkommission: 2023-03). Weitere Informationen finden Sie unter “Experimental model and study participant details“ in der Publikation.
Information zu Tierversuchen
Um grundlegende Prozesse etwa in den Bereichen Neurowissenschaften, Immunologie oder Genetik besser verstehen zu können, ist der Einsatz von Tieren in der Forschung unerlässlich. Keine anderen Methoden, wie zum Beispiel in-silico-Modelle, können als Alternative dienen. Die Tiere werden gemäß strengen gesetzlichen Richtlinien aufgezogen, gehalten und behandelt. Die Forschung mit Tieren wurde am ISTA durchgeführt.
Jake F. Watson, Victor Vargas-Barroso, Rebecca J. Morse-Mora, Andrea Navas-Olive, Mojtaba R. Tavakoli, Johann G. Danzl, Matthias Tomschik, Karl Rössler, and Peter Jonas. 2024. Human hippocampal CA3 uses specific functional connectivity rules for efficient associative memory. Cell. DOI: https://doi.org/10.1016/j.cell.2024.11.022
https://ista.ac.at/de/forschung/jonas-gruppe/ Forschungsgruppe Zelluläre Neurowissenschaft am ISTA
Menschliche CA3-Pyramidalneuronen, aufgezeichnet in einer Patient:innengewebeprobe.
© Jake Watson
ISTA Forscher Peter Jonas und Jake Watson im Labor.
© ISTA
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Biologie, Medizin
überregional
Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch
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