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12.12.2024 15:47

Erneut deutlicher Rückgang bei Tierversuchen – ein Erfolg mit Nebenwirkungen?

Andreas Jankowiak Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Informationsinitiative "Tierversuche verstehen“

    Das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) hat die Versuchstierzahlen für das Jahr 2023 veröffentlicht. Die aktuelle Zahl der zu wissenschaftlichen Zwecken eingesetzten Tiere sank dabei erneut um rund 13 % auf 2.128.620 Tiere (2022: 2.437.794 Tiere). Auch die Zahl der in Versuchen eingesetzten Tiere ging um rund 16 % auf insgesamt 1.456.562 (2022: 1.725.855) zurück. Die Informationsinitiative „Tierversuche verstehen” hat diese Zahlen zeitnah analysiert und lädt zugleich am Freitag, 13.12.2024, zu einem virtuellen Press-Briefing „Tierversuche 2023 - Einordnung der Versuchstierzahlen” ein. Die Veranstaltung findet von 14 bis 15 Uhr online per Zoom statt.

    Es ist der niedrigste Wert seit mehr als 20 Jahren: Im Jahr 2023 ist die Zahl der in Tierversuchen eingesetzten Tiere in Deutschland erneut gesunken, und zwar um rund 16 % auf insgesamt 1.456.562 (2022: 1.725.855). Gleichzeitig sank die Zahl der Tiere, die für wissenschaftliche Zwecke wie Organentnahmen getötet wurden, aber nicht in Tierversuchen verwendet wurden, um 6 % – von 711.939 auf 671.958 Diese Zahlen gehen aus dem heute veröffentlichten Bericht des Bundesinstituts für Risikobewertung (BfR) hervor. Die Initiative Tierversuche verstehen hat die aktuellen Daten analysiert und die Gründe für den Rückgang beleuchtet.

    „Die Bemühungen der Wissenschaft wirken, Tierversuche immer weiter zu reduzieren, wo das möglich ist. Das sehen wir auch dieses Jahr wieder deutlich”, kommentiert Prof. Stefan Treue, Sprecher der Initiative Tierversuche verstehen die Zahlen. Das Ausmaß des Rückgangs sei diesmal jedoch so groß, dass man die Gründe genau analysieren muss. „Denn wenn Versuche ins Ausland verlagert werden, ist die deutsche Statistik nur die halbe, geschönte Wahrheit und wäre kein Gewinn für den Tierschutz”, gibt Treue zu bedenken. In diesem Fall müsse sich der Forschungsstandort Deutschland ernsthafte Sorgen machen.

    Zusammengenommen wurden im Jahr 2023 2.128.520 Versuchstiere für wissenschaftliche Zwecke eingesetzt (Vorjahr 2.437.794 Tiere). Das entspricht einem Rückgang von 13 %. Auch die Zahl der Tiere, die für wissenschaftliche Zwecke gezüchtet, aber nicht verwendet werden konnten und getötet wurden, geht weiter deutlich zurück. Dazu gehören vor allem Tiere, die nicht die benötigte genetische Ausstattung geerbt haben. Die Zahl dieser Tiere ist seit 2021 Teil der jährlichen Tierversuchsstatistik in Deutschland. Sie sank um 22 % auf nun 1.373.173 (Vorjahr 1.769.437).

    Der Rückgang bei den nicht-verwendbaren Tieren parallel zur Zahl der Versuchstiere kommt nicht überraschend, da beides zusammenhängt. „Wenn ich weniger Tiere in Versuchen einsetze, muss ich folglich auch weniger Tiere züchten“, erklärt Treue. Bemerkenswert sei aber, dass diese Zahl noch deutlich stärker zurückgegangen ist als die Versuchstierzahl. Treue nennt zwei wesentliche Gründe: ein gestiegenes Bewusstsein bei der Planung sowie Fortschritte bei Technologien zur Zucht genetisch veränderter Tiere. „Diese Reduktion wird verstärkt durch eine Verlagerung von Zuchten ins Ausland. Die Anzahl überschüssiger Tiere sinkt dann aber nur in der deutschen Statistik, da Forschende die benötigten Versuchstiere aus dem Ausland beziehen.“

    Ungebrochener Trend: Immer weniger Tests an Tieren

    Bei gesetzlich vorgeschriebenen Versuchen – etwa zur Prüfung von Medikamenten oder Chemikalien – gibt es schon seit vielen Jahren einen Abwärtstrend, der mit -9,5 % auch 2023 anhielt. Hierzu trug laut der Initiative Tierversuche verstehen auch der stetig zunehmende Einsatz neuer tierversuchsfreier Technologien bei, die Tierversuche vor allem bei der Qualitätskontrolle von Produktionschargen biologischer Arzneimittel wie Impfstoffen oder Antikörpern ersetzen.

    Anhaltende Reduktion

    Während die Versuchstierzahlen weiter gesunken sind, steigt die Forschungsförderung kontinuierlich an. So erhöhte etwa die Bundesregierung die Ausgaben im Bereich Gesundheitsforschung in den vergangenen zehn Jahren von 1,96 Milliarden Euro im Jahr 2014 auf 3,18 Milliarden Euro im Jahr 2023 – ein Plus von 62 %.

    Trotz steigender Investitionen in die Forschung und wachsendem Output, etwa durch mehr wissenschaftliche Publikationen, ist die Zahl der Versuchstiere nicht parallel gestiegen, sondern weiter gesunken. „Das bedeutet: Wir reduzieren inzwischen bei Tierversuchen seit ein paar Jahren so deutlich, dass trotz steigendem Forschungsaufkommen, die Zahl der eingesetzten Tiere abnimmt”, so Treue.

    Bei der Belastung gab es eine leichte Verschiebung von geringen und schweren Auswirkungen auf die Tiere hin zu Versuchen mit mittlerer Belastung.

    Der Anteil der Tiere in als schwer belastend eingestuften Versuchen ging auf 3,5 % zurück und damit auf den niedrigsten Wert seit Beginn der Aufzeichnungen (Vorjahr 3,6 %). Der Anteil der Tiere mit mittleren Belastungen stieg entsprechend auf 27,5 % (Vorjahr: 25,4 % ), bei gering belastenden Versuchen sank der Anteil auf 63,8 % (Vorjahr 66,3 %).

    "Auch hier sehen wir, wie das 3R-Prinzip “replace, reduce, refine” seine Wirkung entfaltet: So werden nicht nur weniger Tiere eingesetzt, sondern auch durch verbesserte Methoden die Belastungen für die Tiere in noch nicht ersetzbaren Versuchen immer weiter reduziert”, kommentiert Treue.

    Häufigstes Versuchstier bleibt die Maus

    Wie in den vergangenen Jahren sind Mäuse, Ratten und Fische mit einem Anteil von insgesamt 93,4 % weiterhin die mit Abstand am häufigsten eingesetzten Versuchstiere. Die ohnehin niedrige Zahl von Primaten in Tierversuchen ging 2023 von 2.267 auf 1.733 deutlich zurück (-24 %). Ebenfalls gesunken ist die Zahl der Hunde von 2.877 im Vorjahr auf nun 2.551 (-11 %).

    Am deutlichsten sank die absolute Zahl der Mäuse und Fische, insgesamt um 13%. Diese starke Reduktion erklärt sich vor allem durch eine Verringerung bei den Erhaltungszuchten von genetisch veränderten Tieren, insbesondere Mäuse und Zebrafische. In diesem Bereich sank die Zahl um mehr als die Hälfte auf 84.922 Tiere (2022: 190.420 Tiere). Diese Tiere werden nicht in Tierversuchen eingesetzt, erleiden aber durch die Ausprägung der genetischen Veränderung oder eine Genotypisierung eine Belastung und fallen damit unter die Tierversuchsdefinition.

    Freude oder Sorge? Bedenkliche Signale aus der Forschungscommunity

    Die Reduktionsbemühungen von Tierversuchen tragen deutlich erkennbar Früchte. Der Rückgang ist jedoch so stark, dass er sich nicht allein auf den verstärkten Ersatz von Tierversuchen zurückführen lässt. Vielmehr spiegeln sich darin auch die zunehmend schwierigen Rahmenbedingungen für die Forschung in Deutschland wider. „Wir nehmen eine immer stärkere Frustration bei den Forschenden wahr. Sie leiden unter der Verzögerung durch ausufernde Bürokratie und unter rechtlichen Unsicherheiten, ohne einem Zugewinn an Tierschutz“, sagt Treue. „Biomedizinische Forschungseinrichtungen berichten etwa von zunehmenden Schwierigkeiten bei der Anbahnung internationaler Kooperationsprojekte oder dabei, angesichts langwieriger Genehmigungsverfahren Nachwuchswissenschaftler*innen zu gewinnen.“

    Tatsächlich wenden sich zunehmend besorgte Forschende und Fachgesellschaften an die Initiative Tierversuche verstehen. 

    Christoph Englert, Gruppenleiter am Leibniz-Institut für Alternsforschung in Jena, berichtet etwa, dass er Forschungsprojekte mit Mäusen mittlerweile eingestellt habe. „Promovierende oder Postdocs haben etwa drei Jahre Zeit für ihre Forschungsprojekte und die berufliche Qualifizierung. Innerhalb dieses Zeitraums sind Versuche an Mäusen wegen des immensen bürokratischen Aufwandes praktisch nicht mehr möglich“, so Englert. Daher konzentriert sich sein Labor zukünftig ausschließlich auf Fische als Modellorganismen – obwohl die Mausversuche aus wissenschaftlicher Sicht nach wie vor wichtig wären. „Das müssen dann halt die Kollegen im Ausland machen – die im Zweifel nicht dieselben hohen Tierschutzstandards haben wie wir hier”, gibt Englert zu bedenken.

    Thomas Korff, Sprecher des Arbeitskreises Tierversuche beim Verband Biologie, Biowissenschaften und Biomedizin (VBIO), dem größten Verband lebenswissenschaftlicher Fachgesellschaften, bestätigt solche Eindrücke: „Wir sehen bundesweit Probleme, die tierexperimentelle Forschung in Deutschland unattraktiv machen.“ Hierzulande fehle es teils an Rechtssicherheit. Den Versuchsvorhaben würden zeitraubende und komplexe Antragsverfahren vorangestellt, so Korff weiter. Er selbst habe bereits ausländische Dienstleister Teile seiner tierexperimentellen Forschung durchführen lassen, berichtet der Heidelberger Physiologe.

    „Selbstzensur wissenschaftlich gesehen höchst problematisch“

    Korff befürchtet zudem zunehmende Schwierigkeiten, international renommierte Forschende in den Lebenswissenschaften zu gewinnen, weil diese von den Problemen in Deutschland gehört haben. „Wir nehmen außerdem wahr, dass der wissenschaftliche Nachwuchs gerade in der Grundlagenforschung immer häufiger relevante tierexperimentelle Versuchsansätze meidet. Wissenschaftlich gesehen ist so eine Selbstzensur höchst problematisch.”

    „Wir bekommen die Nachteile für die deutsche Forschungslandschaft im internationalen Wettbewerb deutlich zu spüren”, fasst Treue zusammen. Diese Probleme spiegeln sich auch in der Reduktion der Versuchstierzahlen wider. Da die Statistiken mit einem Jahr Verzögerung erscheinen, werden die Auswirkungen nur zeitversetzt sichtbar. „Wir werden jetzt auch die Entwicklungen in anderen Ländern genau beobachten und uns in unseren internationalen Netzwerken umhören, um einschätzen zu können, wohin Versuche aus Deutschland abwandern”, kündigt Treue an.

    Mit ihrer zeitnahen Analyse der Versuchstierzahlen trägt die Initiative Tierversuche verstehen faktenbasiert zur gesellschaftlichen Debatte um Tierversuche bei. Im April 2025 wird die Initiative bereits zum fünften Mal den jährlichen „Kompass Tierversuche“ mit umfassenden Hintergründen und detaillierten Analysen der Versuchstierzahlen in Deutschland und Europa veröffentlichen.

    Die Initiative „Tierversuche verstehen" lädt am Freitag, 13.12.2024, von 14 - 15 Uhr zu einem virtuellen Press-Briefing (via Zoom) zu den Versuchstierzahlen in Deutschland für das Jahr 2023 ein. Prof. Stefan Treue, Sprecher der Initiative, und Dr. Roman Stilling (wissenschaftlicher Referent "Tierversuche verstehen") analysieren kurz- und langfristige Entwicklungen und beantworten Ihre Fragen. Zudem gibt Prof. Thomas Korff, Sprecher des Arbeitskreises Tierversuche beim Verband Biologie, Biowissenschaften und Biomedizin (VBIO), Einschätzungen zur Abwanderung von Versuchsvorhaben ins Ausland.

    Zur Teilnahme am Press-Briefing nutzen Sie bitte folgende Zugangsdaten:

    https://us02web.zoom.us/j/85990690543?pwd=TnlNaPbAB0aiwogCasEaTImwXAzMM1.1

    Meeting-ID: 859 9069 0543

    Kennwort: 684 145

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    Redaktionskontakt:
    E-Mail redaktion@tierversuche-verstehen.de
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    Bilder

    Grafik: Wieviele Versuchstiere werden in Deutschland verwendet?
    Grafik: Wieviele Versuchstiere werden in Deutschland verwendet?
    Tierversuche verstehen
    Quelle: Versuchstierzahlen 2023 – Statistik des Bundesinstituts für Risikobewertung (BfR)

    Grafik: Welchen Anteil haben die verschiedenen Tiergruppen an den Versuchstieren?
    Grafik: Welchen Anteil haben die verschiedenen Tiergruppen an den Versuchstieren?
    Tierversuche verstehen
    Quelle: Versuchstierzahlen 2023 – Statistik des Bundesinstituts für Risikobewertung (BfR)


    Anhang
    attachment icon Pressemitteilung: Erneut deutlicher Rückgang bei Tierversuchen – ein Erfolg mit Nebenwirkungen?

    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten, Wissenschaftler
    Biologie, Chemie, Medizin
    überregional
    Wissenschaftspolitik
    Deutsch


     

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