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Wissenschaft
Warum bleiben unsere mentalen Bilder auch dann scharf, wenn wir uns schnell bewegen? Ein Team von Neurowissenschafter:innen am Institute of Science and Technology Austria (ISTA) hat einen Mechanismus identifiziert, der visuelle Verzerrungen korrigiert, die durch die Bewegungen des sehenden Tieres verursacht werden. Die Studie, die an Mäusen durchgeführt wurde, identifiziert eine Kernfunktion, die auf das visuelle System von allen Wirbeltieren, einschließlich Primaten wie Menschen, übertragen werden kann. Die Ergebnisse wurden in Nature Neuroscience veröffentlicht.
Trotz ihrer rasanten Entwicklung in den letzten Jahrzehnten ist die Videokamerabranche immer noch hinterher, mit den Fähigkeiten des menschlichen Auges gleichzuziehen. Vor allem Action-Kameras sind darauf ausgelegt, Aufnahmen zu machen, die einen im Zentrum des Geschehens wähnen. Nachdem wir die Qualität des Filmmaterials und den Bedarf an ausgefallener Ausrüstung und Optimierungssoftware anhand der Fähigkeiten des menschlichen Auges beurteilen, stellt sich eine Frage: Wie können unsere Augen das so gut machen?
Forscher:innen unter der Leitung von Professor Maximilian Jösch am Institute of Science and Technology Austria (ISTA) haben diese Frage nun mit einer technischen Meisterleistung beantwortet. Die drei Erstautor:innen Tomas Vega-Zuniga, Anton Sumser und Olga Symonova kombinierten eine Reihe modernster Techniken, um eine Gehirnregion in der Maus zu identifizieren, die Verzerrungen im visuellen Signal während der Bewegung vorhersagen und ausgleichen kann. Diese Hirnregion, die sich tief im Gehirn befindet, kopiert buchstäblich die motorischen Befehle des Gehirns, um bewegungsinduzierte Verzerrungen zu minimieren. „Wir zeigen, dass die Bildkorrektur sehr früh während der visuellen Verarbeitung stattfindet – bevor die Informationen an andere Bereiche des Gehirns weitergeleitet werden, die bekanntermaßen komplexere visuelle Merkmale darstellen“, sagt Jösch. „Damit zeigen wir, dass das Gehirn von Säugetieren Strategien entwickelt, um Bewegungen effizient auszugleichen, indem es deren Auswirkungen auf das Sehen vorhersagt.“
Formel-1-Filmmaterial ohne Nachbearbeitung
Die Wissenschafter:innen stellten fest, dass der seitliche Kniehöcker (Englisch, „ventral lateral geniculate nucleus“ vLGN) für eine Art eingebautes Hightech-Videobearbeitungs-Programm im Gehirn verantwortlich ist. Er befindet sich im Thalamus, einer eiförmigen Struktur in der Mitte des Gehirns, unterhalb der Großhirnrinde. Das Team fand heraus, dass der seitliche Kniehöcker eine Vielzahl von motorischen und sensorischen Signalen aus dem gesamten Gehirn integriert und als Drehscheibe für die Berechnung eines umfassenden Korrektursignals dient. Zum Beispiel „schärft“ der seitliche Kniehöcker die visuellen Signale, sobald sich das Auge bewegt. Dadurch können die späteren Phasen der visuellen Verarbeitung viel effizienter berechnet werden. „Denken Sie an Strategien für gute Videoaufnahmen während eines Formel-1-Rennens. Da sich die Autos so schnell bewegen, muss die Belichtungszeit verkürzt werden, damit das endgültige Filmmaterial nicht zu unscharf wird“, erklärt Jösch. Solche Aufnahmen können ohne jegliche Nachbearbeitung live im Fernsehen übertragen werden. Das ist in etwa das, was der seitliche Kniehöcker tut, um uns zu helfen, unsere eigene Bewegung von der der Welt um uns herum zu unterscheiden. Allerdings, im Gegensatz zu einer stationären Kamera, die die vorbeirasenden Autos zeigt, verarbeitet der seitliche Kniehöcker Signale ähnlich wie die ‚Fahrerauge‘-Kamera in der Formel 1. Dazu gleicht er die Bewegung dynamisch aus, um das Bild zu stabilisieren.
Eine unentdeckte Kernfunktion des Gehirns
Frühere Arbeiten suchten bereits nach einem Mechanismus, der das Sehen während der Bewegung effektiv anpasst. Die sakkadischen Augenbewegungen bei Primaten wurden in diesem Zusammenhang besonders untersucht. Diese sind schnelle Verlagerungen des Blickpunkts von einem Teil des Gesichtsfelds zu einem anderen, Bewegungen, die zumindest theoretisch ein geistiges Bild erzeugen oder es verschwimmen lassen sollten. Diese früheren Arbeiten konzentrierten sich jedoch auf Strukturen in der Großhirnrinde, die viel später im visuellen Verarbeitungsprozesses zum Tragen kommen. Unser sensorisches System wird hingegen ständig mit unterschiedlichen Bewegungsarten stimuliert. Je früher also das Gehirn Bewegungen beim Sehen kompensieren kann, desto besser, erklärt Jösch. „Unsere Ergebnisse wurden wahrscheinlich bisher nicht beobachtet, weil frühere Arbeiten sich mit Phasen der visuellen Verarbeitung befasst haben, in denen das Bild bereits korrigiert wurde.“ Die ISTA-Forschenden nehmen nun an, dass ihre Erkenntnisse über den seitlichen Kniehöcker bei Mäusen eine zentrale Funktion im Säugetiergehirn darstellen. „Ähnliche Strukturen gibt es auch bei Primaten, und das ist sehr wahrscheinlich auch beim Menschen der Fall. Das macht unsere Ergebnisse besonders spannend“, sagt Jösch.
Ein Virtual-Reality-System zur Abbildung des Gehirns in vivo
Das Team am ISTA verwendete Spitzentechnologien, etwa ein speziell angefertigtes Zwei-Photonen-Kalzium-Bildgebungsmikroskop. Diese Technik ermöglicht es ihnen, die Aktivität der Neuronen im seitlichen Kniehöcker im intakten Gehirn zu messen, während die Mäuse wach sind und mit einem Virtual-Reality-System interagieren. „Mit diesem Aufbau können wir in das Gehirn einer Maus schauen und die Aktivität der Neuronen im seitlichen Kniehöcker beobachten, während die Maus durch eine virtuelle Welt wandert“, sagt Jösch. Mit dieser Methode entdeckte das Team, dass der seitliche Kniehöcker sehr spezifische Kopien von Verhaltensanweisungen erhält, die dazu verwendet werden können, visuelle Verzerrungen zu korrigieren. „Diese Arbeit war eine echte technische Meisterleistung, bei der mehrere Ansätze verwendet wurden, um ein umfassendes Verständnis der Rolle des seitlichen Kniehöckers im Mäusegehirn zu erlangen“, so Jösch. „Wir sind gespannt, wohin uns die Fortsetzung dieser Arbeit führen wird.“
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Projektförderung:
Dieses Projekt wurde durch Mittel aus dem Europäischen Forschungsrat (European Research Council, ERC) Starting Grant 756502, dem ERC Consolidator Grant 101086580 und dem EMBO ALTF 1098-2017 Human Frontiers Science Program LT000256/2018-L finanziert.
Information zu Tierversuchen:
Um grundlegende Prozesse etwa in den Bereichen Neurowissenschaften, Immunologie oder Genetik besser verstehen zu können, ist der Einsatz von Tieren in der Forschung unerlässlich. Keine anderen Methoden, wie zum Beispiel in-silico-Modelle, können als Alternative dienen. Die Tiere werden gemäß strengen gesetzlichen Richtlinien aufgezogen, gehalten und behandelt.
Vega-Zuniga, T., Sumser, A., Symonova, O., Koppensteiner, P., Schmidt, F. H. & Joesch, M. 2025. A thalamic hub-and-spoke circuit enables visual perception during action by coordinating visuomotor dynamics. Nature Neuroscience. DOI: 10.1038/s41593-025-01874-w
https://www.nature.com/articles/s41593-025-01874-w
https://ista.ac.at/de/forschung/josch-gruppe/ Neuroethologie-Forschungsgruppe am ISTA
Eine In-vivo-Bildgebungseinrichtung. Reflexionen der Co-Erstautor:innen Tomas Vega-Zuniga und Olga S ...
© ISTA
Die Wissenschafter:innen Olga Symonova und Tomas Vega-Zuniga an der In-vivo-Bildgebungsanlage am Ins ...
© ISTA
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Biologie, Medizin
überregional
Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch
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