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Wissenschaft
Myriam Raboldts Buch „Schweigen, Scham und Männlichkeit“ ist ein erster Schritt, potenzlosen Männern einen Raum zu geben und sie über das vermeintlich Unsagbare reden zu lassen
Hermann musste sich mit Ende 50 einer Penisamputation unterziehen. Niemand weiß davon. Er lebt seither zurückgezogen. Myriam Raboldt ist der erste Mensch, mit dem er in einem Chatinterview darüber spricht. Marten sieht sich als „impotent“, und auch er bekennt, dass er noch nie so richtig mit jemandem darüber gesprochen habe. Auch Alberto wurde aufgrund einer fortgeschrittenen Peniskrebsdiagnose das Glied amputiert. Er hätte sich gern mit Betroffenen ausgetauscht, doch er muss erfahren, „dass es nichts gibt, wo man sich melden kann“.
Dr. Myriam Raboldt hat in ihrer Dissertation, die nun auch als Buch „Schweigen, Scham und Männlichkeit. Leben mit Genitalverletzungen“ erschienen ist, versucht zu erforschen, wie cis Männer den Verlust oder die Dysfunktionalität ihres Penis und/oder ihrer Hoden erleben, wie sie damit umgehen. Welche Auswirkungen Genitalverletzungen und -amputationen auf ihre Sexualität und ihr Selbstwertgefühlt haben. Was sie betrauern und welche Vorstellungen von Männlichkeit und männlicher Sexualität sich in dieser Trauer offenbaren. Cis Männer sind Männer, denen bei der Geburt das männliche Geschlecht zugewiesen wurde und die sich damit identifizieren.
Fehlende Anlaufstellen, fehlende Selbstorganisation, fehlende Sichtbarkeit
Ihre erste Erkenntnis: Das Thema cismännlicher Genitalverletzungen und -amputationen oder der Funktionsverlust der Genitalien ist ein gesellschaftliches Tabu. „Das zeigt sich an fehlenden Strukturen wie Anlaufstellen oder Plattformen, an die sich Betroffene wenden könnten, fehlender Selbstorganisation, fehlender Sichtbarkeit des Themas in gesellschaftlichen Debatten und fehlender Gesprächsfähigkeit – oder Gesprächsbereitschaft“, sagt Dr. Myriam Raboldt, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung der TU Berlin.
Ihre zweite Erkenntnis: Jenseits der medizinischen Wiederherstellung von Penis und Hoden durch Prothetik gibt es kaum Forschungen zu den psychosozialen Auswirkungen des materiellen und funktionellen Verlusts der cismännlichen Genitalien. Das Ergebnis ihrer Suche nach Forschungsliteratur zu den psychosozialen Auswirkungen beschreibt Raboldt so: „Geht es in einer Studie um das Erleben von Amputationen, geht es nicht um cismännliche Genitalien. Geht es wiederum um cismännliche Genitalien, geht es nicht um deren materiellen Verlust. Und geht es schließlich um das Erleben und die Bedeutung von Genitalien und deren potenzielle Amputation, geht es nicht um cis-, sondern um transgeschlechtliche Körper und Erfahrungen.“ Die dritte Erkenntnis: Für die Betroffenen selbst ist es fast unmöglich, darüber zu sprechen. So wurde die Unbesprechbarkeit der Verletzungen, Verluste und Dysfunktionalität cismännlicher Genitalien auf allen Ebenen – der gesellschaftlichen, der wissenschaftlichen und der privaten – zum zentralen Thema ihrer Forschung.
Depressionen, Suizidgedanken
Trotz monatelanger Recherchen in Urologie-Netzwerken, Kliniken, der Stiftung Männergesundheit, im Bundesforum Männer, trotz Aufrufe auf Konferenzen und Anfragen über das Peniskrebskarzinom-Register in Rostock (40 angefragte Männer) war kein cis Mann zu einem Gespräch bereit. Erst durch private Kontakte, Aufrufe in diversen Social-Media-Kanälen sowie medizinischen Online-Foren und durch das Angebot, die Gespräche auch in Form von anonymen Chatinterviews stattfinden zu lassen, fanden sich schließlich sechs Interviewpartner. Bei aller Unterschiedlichkeit der sechs cis Männer (Nathan, der über seine Hodenamputation ein Theaterstück schrieb und aufführte; Hermann, der mit niemandem darüber spricht und zurückgezogen lebt) kristallisierten sich Gemeinsamkeiten heraus: Raboldts Gesprächspartner leiden an Depressionen und haben Suizidgedanken. Sie teilen die Erfahrung, schwer mit anderen, vor allem nicht mit anderen cis Männern darüber reden zu können, sondern eher mit cis Frauen und trans Personen. Sie bedauern, nicht reden zu können, gefangen zu sein in diesem normativen Männlichkeitskorsett. Und sie leiden an dem eigenen Unvermögen, sich diesen Wunsch selbst nicht erfüllen zu können gepaart mit einem großen Bedürfnis, sich jemandem anvertrauen zu wollen. Und sie alle mussten erkennen, dass es keine „gescheiten Anlaufstellen“ gebe.
Dr. Myriam Raboldt: „Die gesellschaftliche Norm für cis Männer, potent zu sein, zu funktionieren, lässt sie angesichts dessen, dass sie nicht mehr dieser Norm entsprechen, verstummen und an ihrem Selbstbild zweifeln. Die meisten, vor allem die älteren, sind nicht so sozialisiert, dass sie über ihre Gefühle und Probleme, über Sexualität gut sprechen können. Dass Alberto der Penis amputiert werden musste, lag auch daran, dass er aus Scham monatelang nicht zum Arzt ging. Seine Frau organisierte schließlich einen Termin. Da war der Krebs aber bereits soweit fortgeschritten, dass er fast daran gestorben wäre. Er musste mehrmals operiert werden. Anschließend litt er an depressiven Phasen, empfand kaum noch Freude an etwas und macht sich bis heute große Vorwürfe.“
„Nicht-Wiederbelebungs-Pakt“
Depressionen und auch Suizidgedanken zogen sich generell wie ein roter Faden durch ihre Recherchen zum Thema der Genitalverletzungen: von Berichten über verletzte Soldaten im Ersten und Zweiten Weltkrieg, über Aussagen amerikanischer Soldaten in aktuellen Kriegen bis hin zu ihren Interviewpartnern. In der US-Armee seien Suizide wegen Genitalverletzungen und -amputationen ein großes Thema, so Raboldt. Bei ihrem Exkurs in die Forschungsliteratur findet Raboldt Hinweise darauf, dass im Ersten Weltkrieg Soldaten ihre genitalverstümmelten Kameraden aus Mitleid töteten, um ihnen das Schicksal eines „Nicht-Mannes“ zu ersparen. Ähnliches liest sie in einem offiziellen Bericht der Dismounted Complex Blast Injury Task Force: US-Soldaten hätten im Afghanistan-Krieg im Fall einer Genitalverstümmelung untereinander einen „Nicht-Wiederbelebungs-Pakt“ geschlossen. Im Zweiten Weltkrieg, so eine andere Quelle, war es manchem Soldaten wichtiger, mit dem Stahlhelm seine Genitalien zu schützen als den Kopf.
Eine Frage, die sich im Laufe ihrer Forschungen Dr. Myriam Raboldt immer drängender stellte, war: Warum ist es so schwierig, über die versehrten cismännlichen Genitalien zu forschen, zu sprechen und zu schreiben? – Ein von ihr interviewter Betreiber einer Männerberatungsstelle meint dazu etwas salopp: „Weil der klassische Mann seine Probleme allein löse und sich eben vor den ICE setze oder so.“
Die fragile Männlichkeitskonstruktion muss beschwiegen werden
Dr. Myriam Raboldt bietet eine andere Antwort: Wenn der potente, funktionierende cis Mann die Norm, das Selbstverständliche ist, dann wird im Moment des Verlusts erfahrbar, wie flüchtig diese Selbstverständlichkeit sein kann. Das Wissen um diese fragile, flüchtige (Männlichkeits-)Konstruktion müsse jedoch beschwiegen werden, „die Fragilität der Männlichkeit muss ein Geheimnis bleiben“. Denn eine Anforderung der Männlichkeit selbst sei es, sich an der Bewahrung dieses Geheimnisses zu beteiligen, egal, wie hoch der Preis dafür sei. Schon der Moment, in dem cis Männer in einer kritischen Weise über ihre Männlichkeit redeten, könne als ein Scheitern gelten, den Erwartungen eines patriarchalen, hegemonialen Ideals zu entsprechen. Das Beschweigen der Fragilität führe wiederum zu Unsichtbarkeiten: Die penislosen, potenzlosen cis Männer kommen nicht vor im Diskurs. Hermann, dem der Penis amputiert werden musste, hatte ihr geschrieben: „Gesellschaftlich gesehen ist man nach einer solchen OP niemand mehr.“
Mit ihrer Forschung zum Erleben und Fühlen von und das Sein mit psychischen und sozialen Folgen verletzter cismännlicher Geschlechtskörper betritt Raboldt ein Terrain, das bislang kaum jemand betreten hat. Oder um es mit einem Zitat aus ihrem Buch auszudrücken: „Den Blick auf das Männliche zu richten, wenn es nicht darum geht, einen bekleideten und triumphierenden Helden anzustarren, ist ein subversives Projekt.“
Myriam Raboldt, Schweigen, Scham und Männlichkeit. Leben mit Genitalverletzungen, transcript Verlag 2025, Bielefeld, 288 Seiten, ISBN: 978-3-8376-7449-1, PDF-ISBN: 978-3-8394-7449-5, 39 Euro
Diese Publikation wurde aus dem Open-Access-Publikationsfonds der TU Berlin unterstützt.
Kontakt:
Dr. Myriam Raboldt
TU Berlin
Fakultät I Geistes- und Bildungswissenschaften
Zentrum für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung
E-Mail: raboldt@tu-berlin.de
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Kordula Röckenhaus / Patrick Wagner
„Die gesellschaftliche Norm für cis Männer, potent zu sein, lässt sie angesichts dessen, dass sie ni ...
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Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Ernährung / Gesundheit / Pflege, Gesellschaft
überregional
Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch
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