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06.03.2025 12:06

Wie Menschen Materialien wahrnehmen

Caroline Link Presse, Kommunikation und Marketing
Justus-Liebig-Universität Gießen

    Körnigkeit, Bläue, Viskosität: Nur 36 Dimensionen sind nötig, um Materialien zu erfassen

    Nur selten denken wir in unserem Alltag darüber nach, aus welchen Materialien die Dinge um uns herum bestehen. Gleichzeitig werden viele unserer täglichen Entscheidungen davon beeinflusst – zum Beispiel, wenn wir Kleidung aussuchen, über nasse Pflastersteinen rennen oder einen Topf dicker Suppe umrühren. Materialien wie Seide fühlen sich luxuriös an, schleimige Algen dagegen berühren wir nur ungern. Doch wie nehmen wir diese unterschiedlichen Materialien wahr? Obwohl sie eine enorme Vielfalt in ihrem Erscheinungsbild haben, beruht unser Verständnis von Materialien lediglich auf 36 Dimensionen – wie zum Beispiel Körnigkeit, Bläue oder Viskosität. Das haben Forschende der Justus-Liebig-Universität Gießen (JLU), des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig und des National Institute of Mental Health in den USA in einer Studie gezeigt.

    Um diese Dimensionen zu identifizieren, mussten die Forschenden zunächst herausfinden, welche Materialien es überhaupt gibt. Zu diesem Zweck stellten sie einen Bilderdatensatz zusammen, der 200 verschiedene Materialkategorien umfasst. „Es ist der umfassendste Datensatz seiner Art“, erklärt Dr. Filipp Schmidt von der JLU, Hauptautor der Studie, die in der Fachzeitschrift „Proceedings of the National Academy of Sciences” erschienen ist. „Wir sind jedes einzelne Substantiv in der englischen Sprache durchgegangen, um diese 200 Kategorien auszuwählen.“

    Im nächsten Schritt sammelten die Forschenden über eine Million subjektive Vergleichsurteile von Freiwilligen in einer groß angelegten Online-Studie. Während des Experiments betrachteten die Teilnehmenden jeweils drei der Bilder und mussten auswählen welche beiden sich am ähnlichsten sahen. Mit einem Computeralgorithmus ermittelten die Forschenden anschließend die zugrunde liegenden psychologischen Dimensionen, aufgrund derer wir Materialien mental ordnen. Dazu erläutert Prof. Dr. Martin Hebart, Professor für Computational Cognitive Neuroscience and Quantitative Psychiatry an der JLU und zweiter Hauptautor der Studie: „Wir nehmen an, dass die meisten Dimensionen für die meisten Materialien unwichtig sind. So ist Viskosität vermutlich nur für einige wenige Flüssigkeiten wie Sirup oder Zahnpasta von Bedeutung. Für die meisten anderen Materialien wie Holz oder Kunststoff ist er weitgehend irrelevant, so dass der Algorithmus diesen Materialien einen Wert von Null zuweist.“ Der JLU-Wahrnehmungsforscher Prof. Roland Fleming, Ph.D., ebenfalls einer der Autoren, ergänzt: „Diese Dimensionen sind wie Koordinaten in einem mehrdimensionalen ‚mentalen Raum‘, der der Art und Weise entspricht, wie unser Verstand Materialien ordnet und vergleicht.“

    Um die psychologische Bedeutung der einzelnen Dimensionen herauszufinden, führten die Forschenden ein weiteres Experiment durch. Dabei wurden andere Teilnehmende gebeten, diese Dimensionen zu beschreiben. Überraschenderweise gaben sie häufig übereinstimmende Antworten und benutzten dieselben Worte, um einzelne Dimensionen zu beschreiben. „Dies zeigt, dass die Dimensionen wirklich aussagekräftig sind. Sie lassen sich eindeutig interpretieren“, sagt Dr. Alexandra Schmid vom National Institute of Mental Health, die vierte Autorin der Studie.

    Die Forschungsergebnisse sind nicht nur für diejenigen interessant, die sich mit Materialien beschäftigen. Sie sind auch relevant für eine der wichtigsten aktuellen Debatten in den visuellen Neurowissenschaften, nämlich wie bekannte Konzepte – Gebäude, Menschen, Buchstaben oder in diesem Fall Materialien – im Gehirn abgebildet werden. So haben Forschende inzwischen viele Hirnareale identifiziert, die für bestimmte Arten von Objekten „zuständig“ sind, zum Beispiel eines für Gesichter und ein anderes für Buchstaben. Zugleich gibt es jedoch alltägliche Gegenstände, für die es keinen eigenen Bereich im Gehirn zu geben scheint. So hat auch bisher niemand die Hirnareale identifiziert, die mit bestimmten Arten von Materialien verknüpft wären – obwohl ihre Unterscheidung äußerst wichtig ist für unser alltägliches Verhalten und zahlreiche Entscheidungen.

    Dabei ist die Idee unseres Gehirns als „Orchester“ aus einzelnen Arealen nicht die einzige Möglichkeit, wie Dinge im Gehirn sortiert werden können. „Statt spezifischer Kategorien wie Honig, Erde oder Stahl könnte ein weiteres wichtiges Ordnungsprinzip jenes von Merkmalen oder Dimensionen sein, die vielen Dingen gemeinsam sein können“, so Dr. Filipp Schmidt. „Dies könnten Dimensionen sein wie diejenigen, die wir identifiziert haben.“

    In einer neuen, aktuell laufenden Studie untersuchen die Forschenden jetzt Gehirnscans, um zu schauen, wie sich die neu beschriebenen Dimensionen in der Gehirnaktivität widerspiegeln. Damit möchten sie neue Erkenntnisse dazu erzielen, wie wir die Welt der Materialien wahrnehmen und mit ihr interagieren.


    Wissenschaftliche Ansprechpartner:

    Dr. Filipp Schmidt
    Abteilung Allgemeine Psychologie
    Telefon: 0641 99-26130
    E-Mail: filipp.schmidt@psychol.uni-giessen.de


    Originalpublikation:

    Schmidt, F., Hebart, M. N., Schmid, A. C., & Fleming, R. W.: Core dimensions of human material perception. Proceedings of the National Academy of Sciences, 122 (10) e24172021
    https://doi.org/10.1073/pnas.2417202122


    Bilder

    Obwohl Materialien vielfältige Erscheinungsbilder haben, beruht unser Verständnis von ihnen lediglich auf 36 Dimensionen – wie zum Beispiel Körnigkeit, Bläue oder Viskosität.
    Obwohl Materialien vielfältige Erscheinungsbilder haben, beruht unser Verständnis von ihnen lediglic ...
    KI-generiert


    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten, Studierende, Wissenschaftler
    Psychologie, Werkstoffwissenschaften
    überregional
    Forschungsergebnisse
    Deutsch


     

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