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Wissenschaft
Eine komplexe Entwicklungsstörung mit vielen Gesichtern: Autismus ist nicht heilbar, aber eine frühere Diagnose und ein besseres Verständnis des Verlaufs können zu wirksameren Interventionen führen. Bei der 16. Wissenschaftlichen Tagung Autismus-Spektrum (WTAS) stellen Expertinnen und Experten aus Klinik und Wissenschaft vom 6. bis 8. März in der Neuen Universität in Heidelberg neueste Erkenntnisse vor. Gastgeber ist die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie des Universitätsklinikums Heidelberg (UKHD). Zu einem praxis- und alltagsnahen Austausch tragen auch Menschen mit Autismus und deren Angehörige sowie Autismusberatende an Schulen bei.
„Die Forschung zu Autismus ist heute vielfältiger, vielschichtiger und inklusiver als noch vor wenigen Jahren. Sie berücksichtigt nicht nur die biologischen und genetischen Aspekte, sondern auch die sozialen, kulturellen und individuellen Dimensionen des Lebens mit Autismus,“ sagt Prof. Dr. Luise Poustka, Ärztliche Direktorin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie des Universitätsklinikums Heidelberg und Tagungspräsidentin der Wissenschaftlichen Tagung Autismus-Spektrum (WTAS). „Autismus weiterdenken!“ lautet demnach das Tagungsmotto. Mit etwa 300 Teilnehmenden ist die WTAS die größte Fachtagung zu Autismus im deutschsprachigen Raum. Sie findet zum 16. Mal und erstmals in Heidelberg statt, auf Einladung der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie des Universitätsklinikums Heidelberg und der Wissenschaftlichen Gesellschaft Autismus-Spektrum.
Forschende gehen von 1 bis 1,2 Prozent Autismus-Betroffenen weltweit aus. Die genetisch bedingte tiefgreifende Entwicklungsstörung kann sich in vielen Varianten ausprägen: Jeder zweite Mensch mit der Diagnose Autismus ist geistig beeinträchtigt. Nur jeder fünfte kommt allein zurecht. Daneben gibt es aber auch Betroffene, die überwiegend selbständig leben, im sozialen und kommunikativen Bereich aber dennoch Unterstützung benötigen. Langzeituntersuchungen der letzten Jahre haben gezeigt, dass sich die Symptomatik nicht nur individuell unterscheidet, sondern sich auch im Laufe des Lebens verändern kann: Während einige Betroffene Verbesserungen ihrer Fähigkeiten erleben, bleibt der Zustand bei anderen weitgehend stabil oder verschlechtert sich in manchen Fällen sogar.
Frühere Diagnose ermöglicht bessere Unterstützung
Je früher die Diagnose Autismus gestellt werden kann, desto mehr Chancen gibt es unterstützend zu intervenieren. Eltern können mit ihren Kindern dann bereits sehr früh an speziellen Programmen zur besseren sozialen Anpassung, Kommunikation und sozialen Integration teilnehmen. Bislang ist die Diagnose erst bei Zwei- bis Dreijährigen sicher zu stellen. Forschende arbeiten deshalb international daran, eine sichere Diagnose bereits sehr viel früher zu ermöglichen. In Heidelberg baut Luise Poustka mit ihrem Team am Zentrum für psychosoziale Medizin ein neuartiges Präventions- und Früherkennungszentrum auf, in dem sie Kinder mit familiär bedingtem genetischem Risiko im frühen Kindesalter auf autistische Merkmale untersuchen und therapeutisch unterstützen möchte. Kinder, die bereits ältere Geschwister mit Autismus haben, brauchen dabei eine besonders engmaschige Überprüfung ihrer Entwicklung.
In der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie des UKHD erforscht Arbeitsgruppenleiter Prof. Dr. Dr. Peter Marschik frühe Bewegungsmuster und die Sinneswahrnehmung von Kleinkindern bereits in ihren ersten Lebensmonaten, um daraus Rückschlüsse auf mögliche Autismus-Spektrum-Störungen zu ziehen. Dies passiert nicht nur im klassischen Forschungslabor. Marschik fährt auch direkt zu den Eltern. Hierzu nutzt er das „Phenomobil“, ein mobiles Labor zur Erforschung der frühkindlichen Entwicklung. Mit sieben Kameras, Mikrofonen und weiteren Sensoren kann er darin Bewegungen, Geräusche, jedes kleine Lächeln und soziale Reaktionen der Babys erfassen und mithilfe von Künstlicher Intelligenz mit den Reaktionen gesunder Kleinkinder vergleichen.
„Den typischen Autisten gibt es nicht!“
Dr. Martin Schulte-Rüther fokussiert sich in seiner Arbeit an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie des UKHD darauf, über die Körpersprache und den Blick von Kindern und Jugendlichen soziales Verhalten zu messen. Menschen im Autismus-Spektrum verstehen ihre Umwelt oft in einer anderen Art und Weise als gesunde Menschen. „Sie empfinden ihre Umgebung häufig als Chaos“, schreibt der Selbsthilfeverein Autismus Nordbaden-Pfalz. „Dies kann zu Veränderungsängsten, Panikzuständen oder dem totalen Rückzug in sich selbst, zu Sprachlosigkeit oder verschiedenen anderen Verhaltensauffälligkeiten führen.“ Häufig vermeiden Menschen mit Autismus Blick- und Körperkontakt, und ihre Emotionen sind schwer aus ihrer Miene oder ihren Gesten zu lesen.
Den „typischen Autisten“ gibt es jedoch nicht, denn die Ausprägungen sind zu variantenreich. Um Schülerinnen und Schüler sowie Eltern zu beraten, und Kinder und Jugendliche mit autistischen Störungen im Unterricht zu unterstützen, hat das Staatliche Schulamt Mannheim eine mobile Autismusberatung eingerichtet, die bei Fragen etwa zum Übergang in die weiterführende Schule, zur Leistungsbewertung oder in Krisen berät. Gerald Brandt ist hier im Bereich der beruflichen Schulen tätig. „Ich versuche zu erreichen, dass autistische Schülerinnen und Schüler nicht an persönlichen oder schulorganisatorischen Barrieren scheitern, sondern mit den richtigen Hilfen ihren eigenen Weg gehen können,“ beschreibt Brandt seine Arbeit. Dabei unterstützen die Autismusberatenden auch Mitschülerinnen und Mitschüler sowie Lehrkräfte, damit in der Schule autistische Verhaltensweisen als Teil der schulischen Vielfalt wahrgenommen und akzeptiert werden können.
SAP: Menschen mit Autismus in den Berufsalltag integrieren
Um Menschen mit Autismus auch in ihrem Berufsalltag zu unterstützen, hat das Softwareunternehmen SAP das Programm „Autism at Work“ ins Leben gerufen. Programm-Managerin Stefanie Lawitzke hilft Menschen aus dem autistischen Spektrum etwa beim Bewerbungsprozess oder prüft, ob der Job oder das Team zum Bewerbenden passen. Dabei gewinnen beide Seiten: Menschen mit Autismus haben häufig ein Spezial-Interesse, beispielsweise IT-Sicherheit, in dem sie sehr gute Leistungen bringen. Und das Team profitiert von Regelungen, die Menschen aus dem autistischen Spektrum besonders wichtig sind, wie pünktlich beginnenden Meetings oder festen Protokollen.
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Das Phenomobil ist ein mobiles Labor zur Erforschung der frühkindlichen Entwicklung. Mit Kameras, Mi ...
Universitätsklinikum Heidelberg
Merkmale dieser Pressemitteilung:
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