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Eine Tiefe Hirnstimulation in der MHH bewahrt zwei Schwestern vor dem Rollstuhl
Nele (22) und Jette (18) R. sind fröhliche junge Frauen, die selbstbewusst ihren Weg gehen. Und sie sind Schwestern. Doch außer oder gerade wegen ihrer engen Verwandtschaft verbindet sie noch etwas: Beide entwickelten in der Kindheit eine generalisierte Dystonie. Das ist eine seltene, oft genetisch bedingte Bewegungsstörung. Unbehandelt zwingt die Erkrankung die Betroffenen irgendwann in den Rollstuhl. Doch Nele und Jette hatten Glück. In der Klinik für Neurochirurgie der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) konnte sie eine Tiefe Hirnstimulation (THS) davor bewahren. Bei dem operativen Eingriff wird ein Neurostimulationssystem, eine Art Hirnschrittmacher, implantiert. Bei den Schwestern ist das inzwischen mehr als zehn Jahre her – dennoch kommen die beiden regelmäßig in die MHH und zu Klinikdirektor Professor Dr. Joachim Krauss haben sie inzwischen ein fast freundschaftliches Verhältnis.
Lange nach Hilfe gesucht
An die Anfänge ihrer Erkrankung kann sich Nele kaum erinnern. Als erstmals die Verspannungen und die Innendrehungen des linken Fußes auftraten, ging sie in die Grundschule. „Ich weiß nur noch, dass ich mit Krücken am Sportunterricht teilgenommen habe“, sagt sie. Bei ihrer Mutter sind die Erinnerungen dagegen noch sehr lebendig. „Es hat lange gedauert, bis uns wirklich jemand helfen konnte. Der Begriff ‚Dystonie‘ fiel zwar schnell, aber trotzdem sind wir anfangs nicht von der Stelle gekommen“, berichtet Michaela R. „Ein Orthopäde meinte sogar, wir sollten uns damit abfinden, dass unsere Tochter auf einen Rollstuhl angewiesen sein wird.“ Über einen Neurochirurgen kam für die Familie aus der Nähe von Bad Pyrmont dann schließlich der Kontakt zur MHH-Neurochirurgie zustande. Deren Direktor Professor Krauss gilt weltweit als einer der Pioniere der Tiefen Hirnstimulation, 1997 hat er die Operationsmethode zur Behandlung der Dystonie entwickelt und 2005 dann auch an der MHH eingeführt.
Erste Symptome im Grundschulalter
Eine generalisierte Dystonie wird auch Oppenheim-Erkrankung genannt. Die ersten Lebensjahre der Betroffenen verlaufen in der Regel ganz normal, bis irgendwann zwischen Grundschul- und Jugendalter die ersten Symptome auftreten. Zunächst machen sich die unwillkürlichen Muskelkontraktionen nur zeitweise und an einer Körperstelle bemerkbar, später führen sie zu dauerhaften Verdrehungen und Fehlhaltungen an Gliedmaßen, Rumpf und Hals. Auch die Sprach- und Schluckfähigkeit kann beeinträchtigt sein. „Die Ursache dieser Symptome liegt im Gehirn, was zu einer Fehlfunktion der Basalganglien führt, die tief im Großhirn lokalisiert sind. Bei einer Dystonie ist besonders auch die neuronale Aktivität im sogenannten Globus pallidus internus, der in die Steuerung von Bewegungsabläufen involviert ist, gestört “, erläutert Professor Krauss.
Elektrische Reize korrigieren Hirnfunktion
Als Nele 2011 zu Professor Krauss kam, hatte dieser die Tiefe Hirnstimulation zwar schon lange an der MHH etabliert, bei Kindern – Nele war damals neun Jahre alt – war das Verfahren aber noch recht neu. „Inzwischen wissen wir, das die THS bei Kindern genauso gut funktioniert wie bei Erwachsenen, tendenziell sogar besser“, betont Professor Krauss. Grundsätzlich sei es gut, den Eingriff in einem möglichst frühen Krankheitsstadium vorzunehmen. Bei der Operation implantieren die Neurochirurgen ein Neurostimulationssystem, das über eine durch die Haut hindurch wiederaufladbare Batterie verfügt. Dabei bringen sie dünne Elektroden millimetergenau an exakt lokalisierte Positionen im Globus pallidus internus und auch an andere Zielpunkte im Gehirn. Durch stetige schwache elektrische Reize wird die Hirnfunktion moduliert, wobei bei der Dystonie auch neuroplastische Phänomene relevant sind. Der Schrittmacher wird unter der Haut unterhalb des Schlüsselbeins implantiert und mit den Elektroden verbunden. Mehr als 200 THS wegen generalisierter Dystonien hat das neurochirurgische Team der MHH bereits durchgeführt. Darüber hinaus wird das Verfahren auch bei Parkinson, Epilepsie, Schmerzsyndromen, Zwangserkrankung und essentiellem Tremor angewendet. Bei den Eingriffen arbeitet die Klinik eng mit der Neurologie und Psychiatrie der MHH zusammen.
Gleiche Symptome wie die Schwester
Nach der Implantation des Neurostimulationssystems 2012 ließen Neles Beschwerden innerhalb weniger Wochen nach. „Die Tiefe Hirnstimulation erfolgte glücklicherweise, bevor sich ihr Fußgelenk versteifte“, berichtet Mutter Michaela erleichtert. Als auch bei ihrer jüngeren Tochter die ersten Symptome auftraten, war sie vorgewarnt. „Wir hatten inzwischen auch Gentests machen lassen. Danach stand fest, dass die generalisierte Dystonie bei beiden erblich bedingt ist“, sagt sie. Vorher sei die Erkrankung in der Familie noch nie aufgetreten. Bei Jette zeigte sie sich mit den gleichen Symptomen wie bei ihrer älteren Schwester, allerdings noch früher. Deshalb bekam sie bereits mit sieben Jahren einen Hirnschrittmacher. Bei ihr dauerte es etwas länger, bis das Gerät richtig eingestellt war. „Manchmal geht es um 0,1 Volt. Man braucht etwas Geduld und muss die Wirkung des Schrittmachers länger beobachten“, erläutert Professor Krauss.
Hip-Hop und Skifahren
Einmal pro Jahr kommen die jungen Frauen zur Kontrolluntersuchung in die MHH. „Diesen Termin verbinden wir immer mit einem schönen Tag für uns“, berichtet Jette. „Wir gehen shoppen oder unternehmen etwas Besonderes in Hannover“. Dieses Ritual liebt die ganze Familie. Über die Jahre ist durch die ein- bis zweistündigen Untersuchungstermine eine freundschaftliche Beziehung zwischen den Schwestern und Professor Krauss entstanden. Vor sechs Jahren hat Nele sogar ein Praktikum bei ihm in der Neurochirurgie gemacht und konnte den Ablauf einer Tiefen Hirnstimulation selbst beobachten. Sie interessierte sich für Medizin und wollte alles über die THS erfahren. Über die beiden ehemaligen Patientinnen ist Professor Krauss immer auf dem Laufenden. Er weiß, dass Nele inzwischen nicht Medizin, sondern Informatik studiert und dass Jette nächstes Jahr ihr Abitur macht und dann Hebammenwissenschaft studieren möchte. Und er ist froh, dass Bewegungsstörungen für die beiden kein Thema mehr sind: Jette liebt es, Hip-Hop zu tanzen und Nele macht Kraftsport, fährt Ski und Mountainbike.
SERVICE
Weitere Informationen erhalten Sie bei Professor Dr. Joachim Krauss, krauss.joachim@mh-hannover.de
Kennen sich schon sehr lange: Jette, Professor Krauss und Nele (von links)
Copyright: Karin Kaiser/MHH
Professor Krauss sieht sich mit Jette (links) und Nele die Aufnahme eines Gehirns an. Die Elektroden ...
Copyright: Karin Kaiser/MHH
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