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06.08.2025 14:00

Wege aus der Überlastung von Ärztinnen und Ärzten: Aktuelle Studie zeigt Lösungshorizonte auf

Dr. Bettina Albers Pressestelle der DGN
Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V.

    Aktuell wurde in „Neurological Research and Practice“, dem Open-Access-Journal der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN), eine Umfrage zu belastenden Ereignissen in der Neurologie veröffentlicht. Es nahmen 493 Ärztinnen und Ärzte teil, 318 von ihnen in der neurologischen Weiterbildung. Die Ergebnisse zeigen Handlungsfelder auf, damit der Arztberuf nicht krank macht und wieder attraktiver wird. Die DGN will nun fachintern, aber auch systemisch an Lösungen arbeiten.

    „Resilienz ist ein großes Thema in der Medizin. Belastende Ereignisse gehören zur ärztlichen Tätigkeit dazu, der Umgang mit ihnen kann jedoch unterschiedlich aussehen. Wir wollten untersuchen, wo – insbesondere in der Weiterbildung – belastende Ereignisse am häufigsten auftreten, was resilienzfördernde Faktoren sind und wie Strukturen verbessert werden können, um mit belastenden Ereignissen und der steigenden Arbeitsdichte erfolgreich umzugehen. Angesichts des großen Fachkräftemangels in der Medizin ist es letztlich ein gesellschaftliches Anliegen, den Arztberuf attraktiver zu machen und die Arbeitsfähigkeit von Mitarbeitenden im Gesundheitssystem möglichst lange zu erhalten“, erklärt Dr. Johannes Piel, Kiel, Sprecher der Jungen Neurologie und Erstautor der Studie [1].

    Dass Maßnahmen dafür dringend erforderlich sind, unterstreichen die Ergebnisse der Erhebung: 51 % der Teilnehmenden berichteten von mindestens monatlich vorkommenden belastenden Ereignissen, 15 % sogar von wöchentlichen oder häufigeren. Höhere Burnout-Werte waren signifikant mit der Häufigkeit belastender Ereignisse (p < 0,001), institutionellen Faktoren (p < 0,001), der allgemeinen Jobzufriedenheit (p < 0,001), steigendem Lebensalter (p = 0,030), einer niedrigeren Anzahl von Kindern (p = 0,046) und dem Fehlen von inhaltlichen Nachbesprechungen (sogenannten „Debriefings“) nach belastenden Ereignissen (p = 0,037) assoziiert.

    Am häufigsten wurden belastende Ereignisse in der Notaufnahme (85 %) und auf Intensivstationen (54 %) berichtet, gefolgt von Allgemeinstationen (46 %). Wichtigste Ursachen belastender Ereignisse waren ein hohes Patientenaufkommen, das Second-Victim-Phänomen (die psychische Belastung Behandelnder nach Schicksalsschlägen bei Patientinnen und Patienten, den „First Victims“), eine schlechte Kommunikation mit anderen Fachabteilungen, Fehler sowie Organisationsmängel. Was jüngere Ärztinnen und Ärzte im Rahmen der neu übernommenen Verantwortung und der Notwendigkeit, mit bleibenden Unsicherheiten umzugehen, signifikant häufiger belastete, waren Wissenslücken (p < 0,001), mangelnde Fertigkeiten (p < 0,01), ein hohes Patientenaufkommen (p < 0,01) und (Beinahe-)Fehler (p < 0,05). Ärztinnen und Ärzte in Weiterbildung gaben insgesamt eine höhere Frequenz belastender Ereignisse an als ihre erfahreneren Kolleginnen und Kollegen (p < 0,001) und waren häufiger Burnout-gefährdet (p < 0,001). Immerhin 26 % zeigten Merkmale eines wahrscheinlichen Burnouts. Auf den Umgang mit belastenden Ereignissen seien 69 % nicht vorbereitet gewesen, und nur 23 % wurden während belastender Ereignisse vor Ort supervidiert. Viele der Befragten äußerten den Wunsch nach inhaltlichen Debriefings durch qualifiziertes Personal, z. B. durch vertraute Vorgesetzte, während sie häufig nur mit Familien, Freunden und Peer-Gruppen über belastende Ereignisse sprachen oder sprechen konnten (p < 0,001).

    „Die fachliche Ausbildung von Medizinerinnen und Medizinern ist in Deutschland hochanspruchsvoll, der Ärztemangel führt aber dazu, dass junge Kolleginnen und Kollegen früh in der Weiterbildung nachts oder am Wochenende zunächst mit zeitkritischen Situationen, einer immer arbeitsdichteren Umgebung und schweren Patientenschicksalen allein konfrontiert sind, meist nur mit telefonischer Rücksprachemöglichkeit. Angebote zu strukturierten Nachbesprechungen finden sich kaum, vielerorts fehlt eine offene Fehlerkultur. Dieses Problem ist ein systemisches, das über die Fächergrenzen hinausgeht und in anderen kritischen Berufen wie der Luftfahrt oder Organisationen mit Sicherheitsaufgaben so nicht vorstellbar ist“, so Piel.

    Die negativen Folgen der Überlastung in der Medizin ließen sich bereits der Umfrage entnehmen: 20 % gaben Alkoholkonsum und 9 % die Einnahme von Medikamenten als dysfunktionale Copingstrategie an. Das zeige, wie wichtig es ist, unterstützende Angebote und eine offene Kommunikationskultur zu etablieren. „Wir müssen eine Atmosphäre schaffen, in der das Sprechen über kritische Ereignisse und die eigene Belastung nicht mit Schwäche assoziiert wird, sondern mit dem Willen zur Weiterentwicklung und Verbesserung, auch im Sinne der Patientensicherheit.“

    „Auch wenn die Studie nicht repräsentativ war, da Selektions-Bias und Selbst-Selektions-Bias nicht ausgeschlossen werden können, sehen wir einen dringenden Handlungsbedarf“, erklärt Prof. Dr. Daniela Berg, Kiel, Präsidentin der DGN und Letztautorin des Papers. „Wir brauchen mehr Ärztinnen und Ärzte und können es uns nicht leisten, dass Kolleginnen und Kollegen durch den Job krank werden.“ Wie sie weiter ausführt, können auf institutioneller Ebene durch strukturierte Einarbeitung, Angebote der Nachbesprechung und eine Umgebung, in der offen über belastende Ereignisse und Fehler gesprochen werden kann, die Resilienz gestärkt und die Burnout-Rate reduziert werden. „Als Fachgesellschaft werden wir uns dafür einsetzen, dass in neurologischen Kliniken solche Angebote etabliert werden.“

    Doch darüber hinaus bedürfe es auch struktureller Änderungen, wie einer Reduktion unnötiger Dokumentationsaufgaben, einer stärkeren Rückbesinnung auf ärztliche Tätigkeiten, einem dem Patientenaufkommen angepassten Personalschlüssel und möglicherweise auch einer fächerübergreifenden Supervision. Bereits im Medizinstudium sollten Themen wie Second-Victim-Phänomene und Maßnahmen zur Stärkung der Resilienz behandelt werden. „Diese Themen wird die DGN im Gespräch mit den medizinischen Fakultäten adressieren und Angebote für eine studien- und berufsbegleitende Unterstützung schaffen.“

    [1] Piel JHA, Biesalski AS, Wolke R, Rogge A, Topka H, Klein M, Ploner CJ, Andres F, Berg D. Work-related stressful events and burnout experienced by residents and specialists in German neurology: prevalence, causes, and coping strategies derived from a nationwide survey. Neurol Res Pract. 2025 Jul 28;7(1):52. doi: 10.1186/s42466-025-00415-x. PMID: 40722043; PMCID: PMC12306127.
    https://neurolrespract.biomedcentral.com/articles/10.1186/s42466-025-00415-x

    Pressekontakt
    Pressestelle der Deutschen Gesellschaft für Neurologie
    Pressesprecher: Prof. Dr. Peter Berlit
    Leiterin der DGN-Pressestelle: Dr. Bettina Albers
    Tel.: +49(0)174 2165629
    E-Mail: presse@dgn.org

    Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V. (DGN)
    sieht sich als medizinisch-wissenschaftliche Fachgesellschaft in der gesellschaftlichen Verantwortung, mit ihren 13.000 Mitgliedern die neurologische Krankenversorgung in Deutschland zu sichern und zu verbessern. Dafür fördert die DGN Wissenschaft und Forschung sowie Lehre, Fort- und Weiterbildung in der Neurologie. Sie beteiligt sich an der gesundheitspolitischen Diskussion. Die DGN wurde im Jahr 1907 in Dresden gegründet. Sitz der Geschäftsstelle ist Berlin. www.dgn.org

    Präsidentin: Prof. Dr. Daniela Berg
    Stellvertretender Präsident: Prof. Dr. Dr. Sven Meuth
    Past-Präsident: Prof. Dr. Lars Timmermann
    Generalsekretär: Prof. Dr. Peter Berlit
    Geschäftsführer: David Friedrich-Schmidt
    Geschäftsstelle: Budapester Str. 7/9, 10787 Berlin


    Weitere Informationen:

    https://neurolrespract.biomedcentral.com/articles/10.1186/s42466-025-00415-x


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten
    Medizin
    überregional
    Forschungs- / Wissenstransfer, Forschungsergebnisse
    Deutsch


     

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