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07.08.2025 10:35

KIT-Experte zur Bundestagswahl: „Das neue Wahlsystem ist nicht optimal“

Christian Könemann Stab und Strategie - Gesamtkommunikation
Karlsruher Institut für Technologie

    „Wie gerecht ist unser Wahlsystem?“ Diese Frage stellt Professor Andranik Tangian vom Institut für Volkswirtschaftslehre des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT). In einer neuen vierteiligen Studienreihe zur Bundestagswahl 2025 zeigt der Mathematiker, dass kleine Parteien benachteiligt werden, die Sitzverteilung verzerrt ist und sich ein Großteil der Bevölkerung nicht mehr vertreten fühlt. Der Experte, der sich seit vielen Jahren mit der Analyse und mathematischen Theorie der Demokratie beschäftigt, stellt fest: „Der Bundestag spiegelt den Volkswillen nur zum Teil wider.“ Tangians Lösungsidee: ein neues Wahlsystem mit einer „dritten Stimme“.

    Studie Teil 1: Unvollkommenheit der Wahlreform

    Die Wahlrechtsreform von 2023/24 sollte den Bundestag verschlanken und effizienter machen. Doch mit der Verkleinerung auf 630 Sitze sind erneut Ungleichgewichte entstanden. „Die Begrenzung führt zu neuen Ungerechtigkeiten – besonders für kleinere Parteien“, sagt Tangian. Der Grund: „Große Parteien holen viele Direktmandate, kleinere Parteien hingegen kaum – obwohl sie bundesweit gleichmäßig Stimmen erhalten.“
    Außerdem: „Das offiziell zur Berechnung der Sitzverteilung im Bundestag verwendete Sainte-Laguë-Verfahren führt manchmal zu suboptimalen Ergebnissen“, erläutert der Experte. „Unsere Studie zeigt, dass die CSU im aktuellen Bundestag einen Sitz zu viel und die CDU einen zu wenig hat.“ Sein Vorschlag: Die Stimmen einzelner Abgeordneter könnten unterschiedlich gewichtet werden, analog zur Beschlussfassung in den Hauptversammlungen von Aktiengesellschaften. „In Aktionärsversammlungen haben Anteilseigner mit vielen Aktien prozentual mehr Stimmanteile.“ So könnten auch die 23 verfallenen Direktmandate im Bundestag 2025 erhalten bleiben: „Die ‚geretteten‘ Direktmandate erhielten dann etwa 10 Prozent weniger Stimmgewicht – aber das erscheint besser, als die 23 Wahlkreise gänzlich ohne direkte Bundestagsvertretung zu belassen.“
    Schließlich bringt der Mathematiker eine differenzierte Gewichtung von Wählerstimmen ins Spiel – abhängig von Wahlbeteiligung, Bevölkerungsdichte und Parteistärke. „Ziel ist, dass alle abgegebenen Stimmen am Ende gleich viel zur Sitzverteilung beitragen – unabhängig davon, wo sie abgegeben wurden.“

    Teil 2: Repräsentativität von Parteien und Bundestag

    Anschaulich wird die Schieflage im von Tangian entwickelten Repräsentativitätsindex, der die Übereinstimmung von Parteipositionen mit der in Umfragen ermittelten öffentlichen Meinung misst. Die größte Übereinstimmung mit dem Meinungsbild der Bevölkerung hat darin die Tierschutzpartei, die nicht im Bundestag vertreten ist. Sie steht mit 66 Prozent Repräsentativität auf Platz 1. Danach folgen auf Platz 2 Die Linke mit 60,1 Prozent, auf Platz 3 Volt mit 59,9 Prozent, auf Platz 4 die AfD mit 59,3 Prozent, auf Platz 5 CDU/CSU mit 58,6 Prozent und abgeschlagen auf Platz 16 mit prozentual geringfügigem Abstand mit 56,3 Prozent die SPD. „Das Beispiel der Tierschutzpartei zeigt exemplarisch, wie eine inhaltlich sehr bürgernahe Partei durch das Wahlsystem nicht zum Zuge kommt“, so Tangian. Denn: „Nicht die Nähe zur Bevölkerung entscheidet über Parlamentssitze, sondern strukturelle Faktoren.“
    Als Beispiel für die konstatierte Repräsentationslücke führt Tangian die aktuelle Regierungskoalition aus CDU/CSU und SPD an, die gemeinsam 51,5 Prozent Repräsentativität erreicht. „Gemessen an diesem Wert, fühlt sich nur knapp mehr als die Hälfte der Bevölkerung durch sie vertreten.“ Ursache hierfür seien vom Volkswillen – wie ihn Umfragen zeigen – abweichende Parteipositionen bei zentralen Themen wie Tempolimit, Sozialausgaben oder Verteidigung.

    Teil 3: Die Perspektive der „dritten Stimme“

    Um diese Repräsentationslücke zu schließen, schlägt Tangian ein innovatives Wahlsystem vor: Dabei können Bürgerinnen und Bürger auf dem Stimmzettel konkrete Sachfragen beantworten, ähnlich wie beim Wahl-O-Mat, etwa zur Sozialpolitik oder zum Klimaschutz. Die Parteien beantworten diese Fragen im Vorfeld ebenfalls. „Anhand der Übereinstimmung zwischen Partei und Wählern in Sachfragen wird berechnet, welche Partei am besten zur Meinung der Bevölkerung passt. Und dieser Faktor wird bei der Verteilung der Sitze im Bundestag berücksichtigt“, erklärt Tangian. Neue Fragen könnten regelmäßig gestellt werden, um auf aktuelle politische Entwicklungen zu reagieren.

    Teil 4: Veränderungen im politischen Spektrum

    In einer weiteren Analyse zeigt Tangian, dass sich das politische Spektrum in Deutschland zunehmend hufeisenförmig entwickelt – die politischen Ränder nähern sich inhaltlich an. Auffällig ist, dass die SPD zwischen 2009 und 2025 stärker zwischen linken und rechten Positionen schwankt als andere große Parteien. „Ideologische Inkonsistenzen bei den Parteien der Mitte oder programmatische Unsicherheiten können demotivierend auf die Wählerinnen und Wähler wirken“, sagt Tangian. „Sie beeinflussen das Wahlergebnis negativ, da sich die Bürgerinnen und Bürger von der Mitte nicht mehr vertreten fühlen.“

    Fazit: Demokratische Repräsentation neu denken

    Der Mathematiker betont, dass er das politische System unter rein technischen Aspekten betrachte. „Aber die Erkenntnisse sind natürlich politisch.“ Er möchte seine Forschungsergebnisse als Denkanstoß für Politik und Gesellschaft verstanden wissen. Sein Appell: „Wenn ein Wahlsystem möglich ist, das kleinere Parteien weniger benachteiligt und die tatsächlichen Meinungen der Bevölkerung besser abbildet, sollten wir darüber sprechen.“
    Für Interviewwünsche oder weiterführende Informationen stellt der Presseservice des KIT gern den Kontakt zu dem Experten her.

    Im Portal Expertinnen und Experten des KIT finden Sie weitere Ansprechpersonen aus der Wissenschaft.


    Wissenschaftliche Ansprechpartner:

    Dr. Felix Mescoli, Pressereferent, Tel.: 0721 608-41171, E-Mail: felix.mescoli@kit.edu


    Weitere Informationen:

    https://econpapers.wiwi.kit.edu/downloads/WP%20167_FINAL.pdf Studie Teil 1 : Unvollkommenheit der Wahlreform,
    https://econpapers.wiwi.kit.edu/downloads/WP%20168_FINAL.pdf Teil 2: Repräsentativität von Parteien und Bundestag
    https://econpapers.wiwi.kit.edu/downloads/WP%20169_FINAL.pdf
    https://Teil 3: Die Perspektive der „dritten Stimme“
    https://econpapers.wiwi.kit.edu/downloads/WP%20170_FINAL.pdf Teil 4: Veränderungen im politischen Spektrum


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten
    Gesellschaft, Mathematik, Politik
    überregional
    Forschungsergebnisse
    Deutsch


     

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