idw – Informationsdienst Wissenschaft

Nachrichten, Termine, Experten

Grafik: idw-Logo
Grafik: idw-Logo

idw - Informationsdienst
Wissenschaft

Science Video Project
idw-Abo

idw-News App:

AppStore

Google Play Store



Instanz:
Teilen: 
12.08.2025 14:25

Neurotoxisch? Neues Screening-Verfahren für Chemikalien liefert schnelle Antwort

Susanne Hufe Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung - UFZ

    Schätzungsweise 350.000 Chemikalien sind derzeit weltweit kommerziell verfügbar. Welche möglicherweise neurotoxisch wirken, also schädlich für das (sich entwickelnde) Gehirn sind, darüber ist kaum etwas bekannt. Bislang fehlen effiziente Testverfahren. Ein Forschungsteam des UFZ hat nun ein Screening-Verfahren auf Basis des Zebrafischmodells entwickelt, das Neurotoxizitätstests im Hochdurchsatzverfahren ermöglicht und auf konventionelle Tierversuche verzichtet. Im Rahmen der Studie deckten die Forschenden die neurotoxische Wirkung sowie die dahinterstehenden molekularen Mechanismen der Chemikalie Chlorophen auf. Die Studie ist im Fachmagazin Environmental Health Perspectives erschienen.

    „Bislang sind weltweit nur etwa 200 Substanzen durch offizielle regulatorische Studien auf neurotoxische Wirkungen hin untersucht“, sagt UFZ-Ökotoxikologe Dr. David Leuthold, der Erstautor der Studie ist. „Der Grund dafür ist, dass diese Testverfahren aufwendig, zeitintensiv und teuer sind. Hinzu kommt der ethische Aspekt, denn sie finden überwiegend mit Ratten oder Mäusen statt.“ Was fehlt, ist ein Screening-Verfahren, das auf konventionelle Tierversuche verzichtet und mit dem neurotoxische Wirkungen von Chemikalien und komplexen Chemikalienmischungen schnell, sicher und kostengünstig aufgedeckt werden können. Genau hier setzt die UFZ-Studie an.

    Das UFZ-Team verwendete Embryonen des Zebrabärblings (Danio rerio), der in der toxikologischen Forschung häufig eingesetzt wird. Ein Vorteil dieses Modells ist, dass rund 70 Prozent der Gene des Zebrabärblings auch beim Menschen zu finden sind. Die Erkenntnisse aus dem Zebrafischmodell sind daher wahrscheinlich auch auf den Menschen übertragbar. Darüber hinaus sind Fischembryonen aufgrund ihrer geringen Größe und schnellen Entwicklung für Hochdurchsatzanwendungen geeignet, die wertvolle Einblicke in die Funktion des Nervensystems ermöglichen.

    Die Forschenden haben mit dem Zebrafischmodell ein Screening-Verfahren entwickelt, das es ermöglicht, Chemikalien schnell auf neurotoxische Wirkungen zu testen – einschließlich der Identifikation von Chemikalien, die Lern- und Gedächtnisprozesse stören. Doch wie können Lernen und Gedächtnis in einem Fischembryo untersucht werden? „Da bedienen wir uns einer der simpelsten Formen des Lernens, die Gewöhnung an einen wiederkehrenden Reiz“, erklärt Leuthold. „Ertönt ein akustisches Signal, löst es beim Fisch einen Schreck- oder Fluchtreflex aus. Ertönt es aber immer wieder, gewöhnt er sich daran und hört schließlich auf, auf den ungefährlichen Reiz zu reagieren.“ Auch der Wechsel zwischen Hell-Dunkel-Reizen führt bei Zebrafischembryonen zu einem veränderten Schwimmverhalten. Die Forschenden kombinierten akustische und visuelle Reize in Häufigkeit, Reihenfolge, zeitlicher Abfolge, Dauer sowie Intensität und konzipierten so ein definiertes Testverfahren.

    Zunächst testeten sie mit dem Verfahren chemische Substanzen, deren Wirkung auf das Verhalten von Fischembryonen bekannt war. „Neurotoxische Substanzen können ganz unterschiedlich wirken. Manche führen etwa dazu, dass sich der Fischembryo nicht mehr an einen akustischen Reiz gewöhnt, wodurch ihr Fluchtreflex wiederholt ausgelöst wird. Andere Stoffe können wiederum bewirken, dass die Gewöhnung deutlich schneller eintritt“, erklärt Leuthold. „Mit diesen bekannten Substanzen konnten wir eine Art Verhaltens-Fingerabdruck generieren, über den wir dann Rückschlüsse ziehen können, wie die chemische Exposition die Funktion des Nervensystems stört.“

    Anschließend testeten die Forschenden zehn ausgewählte Substanzen, die ein Rezeptorsystem (NMDAR) beeinflussen, das für Lernen und Gedächtnis eine besondere Rolle spielt. Ob sie auch im Zebrafischmodell eine neurotoxische Wirkung zeigen, darüber war noch nichts bekannt. „Mit unserem Screening-Ansatz konnten wir bei sechs Substanzen deutliche Effekte auf das Lernverhalten nachweisen. Sie zeigten eindeutig eine neuroaktive Wirkung“, sagt der UFZ-Forscher. Dabei fiel eine Substanz besonders auf: Chlorophen, eine Chemikalie, die zu den Bioziden gehört. Im Gegensatz zu den anderen Substanzen führte Chlorophen nicht zu einer schnelleren Gewöhnung an akustische Reize, sondern blockierte das Lernverhalten gänzlich. Und es zeigte sich noch eine weitere Besonderheit. Die Fischembryonen reagierten unter der Wirkung von Chlorophen zwar noch auf akustische Reize, nicht aber auf visuelle. „Dieses Phänomen wird als paradoxe Erregung bezeichnet und tritt bei bestimmten Narkotika auf“, so Leuthold. Dass auch Chlorophen diesen Effekt haben kann, war bislang nicht bekannt, weshalb die Forschenden dem dahinterstehenden Wirkmechanismus weiter auf den Grund gehen wollten.

    Sie stießen auf eine Studie US-amerikanischer Kolleg:innen, in der Narkotika im Zebrafischmodell getestet wurden. Darin wurde gezeigt, dass die paradoxe Erregung unter anderem über bestimmte Rezeptoren (GABAA) vermittelt wird, die eine wichtige Rolle in unserem Zentralnervensystem spielen und maßgeblich daran beteiligt sind, Verhalten zu steuern. Könnte die Wirkung von Chlorophen gehemmt werden, wenn GABAA-Rezeptoren blockiert werden? Dieser Frage ging das UFZ-Team in Untersuchungen mit ihrer Zebrafisch-Plattform nach. Leuthold: „Bei blockierten GABAA-Rezeptoren reagierten die mit Chlorophen exponierten Fischlarven tatsächlich wieder auf visuelle Reize. Aber: Die Blockierung der Rezeptoren konnte das veränderte Lernverhalten nicht rückgängig machen. Wir haben daraus gelernt, dass Chlorophen mehrere molekulare Wirkmechanismen besitzt.“

    Doch zunächst wollten die Forschenden durch weiterführende Tests, ihre Hypothese zum Wirkmechanismus von Chlorophen über GABAA-Rezeptoren absichern. Dafür nutzten sie aus Mäusen isolierte Neuronen und menschliche neuronale Zellmodelle. In Kooperation mit Kolleg:innen der Universität Leipzig sowie des Leibniz-Instituts für umweltmedizinische Forschung in Düsseldorf konnten die Forschenden zeigen, dass Chlorophen ebenfalls über GABAA-Rezeptoren wirkt. Auch Computermodelle, die die chemische Struktur mit möglichen Rezeptoren auf Passung abgleichen, sagten eine Bindung an GABAA-Rezeptoren voraus. Der Wirkmechanismus von Chlorophen über GABAA-Rezeptoren war somit nachgewiesen.

    Doch was ist mit dem anderen Wirkmechanismus von Chlorophen, der das Lernverhalten verändert? Steckt hier womöglich das erstgenannte NMDA-Rezeptorsystem dahinter? Weiterführende Untersuchungen, wiesen darauf hin, dass Chlorophen wohl nicht direkt mit diesen Rezeptoren interagiert. In der US-Studie mit den im Zebrafischmodell getesteten Narkotika fanden die Forschenden einen Hinweis auf ein weiteres Rezeptorsystem, das bei der paradoxen Erregung eine Rolle spielen könnte: spezielle Kaliumkanäle. „So kam uns die Idee, das Schmerzmittel Flupirtin, das über diese Kaliumkanäle wirkt, in unserer Zebrafisch-Plattform zu testen“, erklärt der Ökotoxikologe. „Und tatsächlich – Flupirtin rief nahezu die gleichen Verhaltensmuster hervor wie Chlorophen, einschließlich reduziertem Lernverhalten. Vermutlich wirkt Chlorophen ganz ähnlich, wenn nicht gar genauso über diese Kaliumkanäle.“

    Die Forschenden hoffen, dass sie mit ihrem Screening-Ansatz dazu beitragen können, dass Chemikalien und Chemikalienmischungen künftig in großem Maßstab schnell, kostengünstig und ohne konventionelle Tierversuche auf neurotoxische Wirkungen getestet und so Gefährdungen für Mensch und Umwelt frühzeitig erkannt werden können. „Unsere Zebrafisch-Plattform steht im Einklang mit der EU-Chemikalienstrategie sowie dem Konzept des European Green Deal, da sie gefährliche Chemikalien frühzeitig identifizieren kann, bevor sie Schaden anrichten“, sagt Leuthold.

    Prof. Dr. Tamara Tal, die die Arbeitsgruppe am UFZ leitet, in der die Studie durchgeführt wurde, betont: „Aufsichtsbehörden stehen der Nutzung von Toxizitätsdaten aus Zebrafischstudien zur Regulierung von Chemikalien grundsätzlich skeptisch gegenüber. Wenn wir zeigen können, dass die Wirkweise dieser Chemikalien auf die Entwicklung und Funktion des Gehirns in Zebrafisch-, Maus- und Humanmodellen spezifisch konserviert ist, stärkt das das Vertrauen in die Nutzung verhaltensbasierter Zebrafischdaten. So lässt sich die bestehende Lücke in der Neurotoxizitätsprüfung besser schließen, mit dem Ziel, die menschliche Gesundheit vor den schädlichen Auswirkungen neurotoxischer Chemikalien zu schützen."


    Wissenschaftliche Ansprechpartner:

    Dr. David Leuthold
    UFZ-Department Ökotoxikologie
    david.leuthold@ufz.de

    Prof. Dr. Tamara Tal
    UFZ-Department Ökotoxikologie / Leiterin AG mechanistische Toxikologie
    tamara.tal@ufz.de


    Originalpublikation:

    David Leuthold, Nadia K. Herold, Jana Nerlich, Kristina Bartmann, Ilka Scharkin, Stefan J.
    Hallermann, Nicole Schweiger, Ellen Fritsche, Tamara Tal: Multi-behavioral phenotyping in early-life-stage zebrafish for identifying disruptors of non-associative learning; Environmental Health Perspectives, https://doi.org/10.1289/EHP16568


    Weitere Informationen:

    https://www.nature.com/articles/s41467-019-11936-w
    https://earthenvironment.helmholtz.de/assets/changing_earth/user_upload/ModHaz_S...


    Bilder

    Well-Platte mit 96 Embryonen des Zebrabärblings zur automatisierten Analyse ihres Schwimmverhaltens per Videotracking.
    Well-Platte mit 96 Embryonen des Zebrabärblings zur automatisierten Analyse ihres Schwimmverhaltens ...
    Quelle: André Künzelmann
    Copyright: André Künzelmann / UFZ

    UFZ-Wissenschaftler Dr. David Leuthold testet mithilfe des Zebrafischmodells, ob Umweltchemikalien neurotoxisch wirken.
    UFZ-Wissenschaftler Dr. David Leuthold testet mithilfe des Zebrafischmodells, ob Umweltchemikalien n ...
    Quelle: ©André Künzelmann
    Copyright: ©André Künzelmann / UFZ


    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten, Studierende, Wirtschaftsvertreter, Wissenschaftler
    Chemie, Medizin, Umwelt / Ökologie
    überregional
    Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
    Deutsch


     

    Hilfe

    Die Suche / Erweiterte Suche im idw-Archiv
    Verknüpfungen

    Sie können Suchbegriffe mit und, oder und / oder nicht verknüpfen, z. B. Philo nicht logie.

    Klammern

    Verknüpfungen können Sie mit Klammern voneinander trennen, z. B. (Philo nicht logie) oder (Psycho und logie).

    Wortgruppen

    Zusammenhängende Worte werden als Wortgruppe gesucht, wenn Sie sie in Anführungsstriche setzen, z. B. „Bundesrepublik Deutschland“.

    Auswahlkriterien

    Die Erweiterte Suche können Sie auch nutzen, ohne Suchbegriffe einzugeben. Sie orientiert sich dann an den Kriterien, die Sie ausgewählt haben (z. B. nach dem Land oder dem Sachgebiet).

    Haben Sie in einer Kategorie kein Kriterium ausgewählt, wird die gesamte Kategorie durchsucht (z.B. alle Sachgebiete oder alle Länder).