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Bei Neugeborenen mit spinaler Muskelatrophie kann Risdiplam, ein „small molecule“, sicher und wirksam mRNA editieren und so den Krankheitsprogress aufhalten. In einer aktuellen „Proof-of-Principle“-Studie zu Risdiplam zeigte sich, dass das kleinmolekulare Medikament bereits vor dem Auftreten der ersten Symptome wirkt. Angesichts der Tatsache, dass bei verschiedenen neurologischen Erkrankungen Genmutationen zu fehlerhafter, krankheitsverursachender mRNA führen, z. B. bei einigen Formen von ALS, Parkinson oder Demenzerkrankungen, ist dieses Studienergebnis von hoher Relevanz, und zwar weit über das beschriebene Krankheitsbild hinaus.
Die spinale Muskelatrophie (SMA) ist eine seltene, autosomal-rezessive neuromuskuläre Erkrankung. Zurückzuführen ist sie auf Mutationen des Survival-of-Motor-Neuron-Protein 1 (SMN)-Gens. Der Schweregrad der Erkrankung variiert. SMA Typ 1 betrifft schon Neugeborene, die Säuglinge erlernen meistens keine normale Kopfkontrolle oder freies Sitzen und können wegen Schluckbeschwerden nicht trinken. Die Lebenserwartung beträgt ohne Therapie maximal 13 Monate, meistens versterben die Kinder in den ersten zwei Lebensjahren an respiratorischen Komplikationen bei Versagen der Atemmuskulatur. Die anderen Typen der Erkrankung haben eine etwas bessere Prognose, stellen aber bis auf Typ IV ebenfalls infauste Diagnosen dar.
Ursache der SMA ist in ca. 90 % der Fälle eine „loss-of-function“-Genmutation auf dem Chromosom 5 im sogenannten „Survival-Motor-Neuron-1“(SMN-1)-Gen. Dadurch kann kein funktionsfähiges SMN-Protein gebildet werden, das Motoneuronzellen zum Überleben benötigen. Vom SMN-1-Gen gibt es eine fast identische Kopie im Erbgut, das SMN-2-Gen, welches den Funktionsverlust des SMN-1-Gens zumindest abmildern sollte. SMN-2 ist jedoch bei der Erkrankung nicht voll funktionsfähig und kann lediglich kurzes und instabiles SMN-Protein bilden.
Aktuell gibt es neben der Genersatztherapie, bei der SMN1-Gen mit Hilfe von Viren als intravenöse Infusion eingeschleust wird, den Therapieansatz, die Ablesbarkeit des SMN-2-Gens zu verbessern, so dass der Körper wieder selbst funktionsfähiges SMN-Protein bilden kann. Das leistet das sog. Antisense-Oligonukleotid Nusinersen, das via Lumbalpunktion in die Zerebrospinalflüssigkeit injiziert werden muss. Doch auch das „small molecule“ Risdiplam kann das Splicing der SMN2-prä-mRNA optimieren, so die Ablesbarkeit des SMN-2-Gens erhöhen und damit den Krankheitsprozess aufhalten.
In einer aktuellen Studie wurde der Nachweis erbracht, dass Risdiplam bereits effektiv wirkt, bevor Symptome entstehen. Insgesamt wurden 26 Säuglinge mit genetisch bestätigter SMA und zwei, drei oder vier oder mehr Kopien von SMN2 in die Studie aufgenommen und erhielten Risdiplam (0,2 mg pro kg Körpergewicht), und zwar bevor sie symptomatisch wurden. Nach 12 Monaten konnten 21 Säuglinge (81 %) 30 Sekunden lang ohne Unterstützung sitzen, 14 (54 %) konnten alleine stehen und 11 (42 %) alleine gehen. Drei Säuglinge wurden nach zwölf Monaten von einem Elternteil aus der Studie genommen. Von den 23 Säuglingen, die die 24-monatige Behandlung abgeschlossen hatten, lebten alle ohne permanente Beatmung oder künstlicher Ernährung. Es traten keine schwerwiegende Nebenwirkungen auf.
„Das Ergebnis ist ein Durchbruch in der Therapie der SMA, die damit behandelbar wird, bevor Symptome entstehen“, erklärt Prof. Dr. Tim Hagenacker, Sprecher der DGN-Kommission Motoneuron- und neuromuskuläre Erkrankungen. „Ein weiterer Vorteil von small molecules liegt in ihrer Einfachheit. Viele können die Blut-Hirn-Schranke überwinden und sind oral verfügbar, während ASO-Therapien nur intrathekal, in der Regel unter Vollnarkose, verabreicht werden können.“ Auch seien sie generell sehr gut verträglich. Wie Prof. Hagenacker betont, können small molecules so konzipiert werden, dass sie nur auf bestimmte Zelltypen oder Signalwege innerhalb des Nervensystems abzielen, wodurch die Präzision der Therapie erhöht wird.
„Die aktuelle Studie zeigt, dass das Therapieprinzip funktioniert und small molecules auch erfolgreich vor der symptomatischen Erkrankung eingesetzt werden können. Wir werden in den nächsten Jahren sicher viele solcher wirksamen small molecules für monogenetisch bedingte neurologische Krankheiten wie Chorea Huntington, das Rett-Syndrom, die Charcot-Marie-Tooth-Erkrankung, Neurofibromatose oder auch genetische Formen der ALS, Parkinson- oder Alzheimer-Erkrankung sehen. Zu den drei letztgenannten wurden bereits Bluttests für die Frühdiagnose entwickelt. Wenn diese klinisch validiert sind, könnte die Therapie bereits beginnen, bevor die Betroffenen Symptome entwickeln. Gerade bei neurodegenerativen Erkrankungen mit langer Prodromalphase wie Alzheimer oder Parkinson wäre das von großer Relevanz“, erklärt Prof. Peter Berlit, Generalsekretär der DGN.
Literatur
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doi: 10.1056/NEJMoa2410120.
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