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21.08.2025 12:58

Teilchenexplosion in Reverse Motion

Lea Kenzler Presse- und Kommunikationsstelle
Universität Rostock

    Wenn ein kleines Teilchen, bestehend aus rund hundert Atomen, intensiven Laserpulsen
    ausgesetzt wird, entsteht ein extrem heißer Plasmaball, der sich explosionsartig unter
    Aussendung schneller Elektronen und Ionen hoher Energie, sowie Röntgenstrahlung aufbläht. Einem Forscherteam aus Rostock gelang es in Laserexperimenten an Silberteilchen mit exakt ausgewählter Atomanzahl gezielt in die Plasmaentwicklung einzugreifen. Erstmals
    zeichneten sich in den Bewegungsenergien der Ionen klare Hinweise auf die ursprüngliche Schalenstruktur der Cluster ab.

    Im Film Demolition d’un mur von Louis Lumière aus dem Jahr 1895 wird gezeigt, wie Arbeiter eine Mauer einreißen. Die Brüder Lumière projizierten den Film in zeitlich umgekehrter Reihenfolge, so dass sich die Steinmauer scheinbar wieder zusammensetzte[1].

    Was im Kino einfach zu bewerkstelligen ist, beobachtet man in der Realität äußerst selten. Die Natur bevorzugt den Weg in die Unordnung. Reverse Motion, wie man diesen Trick in der Filmbranche nennt, ist daher für physikalische Vorgänge eher
    unwahrscheinlich - eine entsprechende experimentelle Herangehensweise also wenig erfolgversprechend.

    Was ist zu tun? Kennt man das ursprüngliche Objekt nicht und schaut auf den Steinhaufen, könnte die wissenschaftliche Herausforderung darin bestehen, aus der Bewegung der Bruchstücke auf Form und Struktur des Ausgangsobjekts zu schließen.
    Den oben im Film beschriebenen Vorgang würde man auf der Ebene der Moleküle und Nanoteilchen die Rekonstruktion einer Coulombexplosion nennen. Zunächst beraubt man einem Atomhaufen innerhalb kürzester Zeit eine Vielzahl an Elektronen. Die zurückbleibenden Ionen spüren die elektrostatische Abstoßung der anderen Ladungen und entfernen sich explosionsartig voneinander. Dabei ergeben sich aufgrund ihres Ladungszustands und ihrer ursprünglichen Position im Komplex charakteristische Flugbahnen.

    Bestimmt man die Ionengeschwindigkeiten, lässt sich zurückrechnen und auf die ursprüngliche molekulare Struktur schließen. Dieses Verfahren ist unter dem Namen Coulomb explosion imaging bekannt geworden. In der Anfangsphase streifte man die Elektronen mit Hilfe hauchdünner Metallfolien ab [2].

    Mittlerweile nutzt man intensive, ultrakurze Laserpulse, um die Coulombexplosion auszulosen. Für Moleküle bestehend aus wenigen Atomen funktioniert das Verfahren gut [3].

    Aber wie verhält es sich, wenn man deutlich größere Partikel mit mehr als einhundert Atomen -man nennt sie in der Wissenschaft Cluster- betrachtet. Gegen¨uber den Studien an kleinen Molekülen vollführt das System bei Experimenten an Clustern aufgrund der umfangreichen Elektronenablösung einen so genannten Phasenübergang ein
    mikroskopisch kleines Plasma bildet sich. Die Menge an positiven Ladungen erzeugt nämlich einen Energiekäfig, der die meisten der Elektronen daran hindert, zu entweichen. Diese können sich nahezu frei im ihrem Käfig bewegen. Aufgrund ihrer geringen Gr¨oße nennt man diese Objekte Nanoplasmen [4].

    Erste Nanoplasmen wurden schon in den 90er Jahren erzeugt und ihre Eigenschaften und ihr Verhalten ist seitdem intensiv untersucht worden [5].

    Nanoplasmen sind hochgradig fragil und ihre Expansion verläuft im Vergleich zu Molekülen in deutlich komplexerer Weise. Lassen sich trotzdem noch Informationen ¨uber
    Struktureigenschaften extrahieren?
    Dies ist der AG Tiggesbäumker/Meiwes-Broer der Universität Rostock nun in einem richtungsweisenden Experiment gelungen [6], wobei schalenartig aufgebaute Silbercluster als Untersuchungsobjekte dienten.

    Besonders herausfordernd ist, dass man die geladenen Teilchen im Plasma nicht isoliert betrachtet kann: Elektronen wirken abschirmend auf die Ionen oder verändern laufend deren Ladungszustand, während die Ionen Fahrt aufnehmen. Aufgrund der starken Aufladung fällt die Bewegung mit etwa 1‰ der Lichtgeschwindigkeit außerdem enorm hoch aus, was insgesamt eine Herausforderung für die eingesetzte Diagnostik und die anschließende Analyse darstellt.

    Eine trickreiche Herangehensweise war notwendig, um an die gewünschten Strukturinformationen zu gelangen: Die Speicherung größenselektierter Cluster in einer speziellen Falle für Ionen, Auswertung eng begrenzter Intensitätsbereiche, ladungsaufgelöste Messungen und Simulationen der Teilchenbewegung ermöglichten es, die Signaturen in den Geschwindigkeiten eindeutig der geometrischen Struktur der Cluster zuzuordnen. Weiter nutzten die Forscher aus, dass jedes Plasma eine Eigenfrequenz hat, die sich resonant anregen lässt.

    Die Resonanz erlaubt es, massiv Energie in das System über die kollektive Bewegung
    der Plasmaelektronen zu pumpen. Durch die Einstrahlung von zwei zeitlich versetzten Laserpulsen wurde das Nanoplasma erst erzeugt und kurze Zeit danach resonant angeregt. Viele verschmierende Effekte aufgrund der Elektronenbewegung, die die Coulombexplosion der Ionen maskieren, wurden durch den erhöhten Energieeintrag minimiert. Damit gelang es nachzuweisen, dass in Ag−55 und Ag−147 die Ionen
    ihre Bindungsplätze in den einzelnen Schalen verlassen und charakteristische Energien erreichen, was Rückschlüsse auf ihre Anfangsposition erlaubte. Das neue Verfahren ist so empfindlich, dass sich sogar strukturelle Umordnungen in der Anfangsgeometrie auflösen lassen, wenn man die Clustergröße nur um ein Atom verändert.

    Inzwischen haben die Wissenschaftler in den Energiesignaturen den Schalenaufbau
    in einem Cluster mit mehr als 300 Atomen nachgewiesen. Was 1895 mit D´emolition d’un mur als filmischer Rückwärtslauf begann, wird nun auf molekularer Ebene Wirklichkeit: Durch die Arbeit der Forscher gelingt ein weiterer Schritt in Richtung des Ziels, die Dynamik von Strukturänderungen zeitlich umgekehrt zu analysieren und und daraus die ursprüngliche Geometrie zu rekonstruieren.

    References
    [1] Wikipedia. The free encyclopedia. https://en.wikipedia.org/wiki/Dmolition_d%27un_mur. last visit: 2025-06-13.
    [2] Z. Vager, R. Naaman, and E. P. Kanter. Coulomb explosion imaging of small molecules. Science, 244:426–431, 1989.
    [3] M. Pitzer, M. Kunitski, A. S. Johnson, T. Jahnke, H. Sann, F. Sturm, L. Ph. H. Schmidt, H. Schmidt-B¨ocking, R. D¨orner, J. Stohner, J. Kiedrowski, M. Reggelin, S. Marquardt, A. Schießer, R. Berger, and M. S. Sch¨offler. Direct Determination of Absolute Molecular Stereochemistry in Gas Phase by Coulomb Explosion Imaging. Science, 341:1096–1100, 2013.
    [4] Th. Fennel, K.-H. Meiwes-Broer, J. Tiggesb¨aumker, P.-G. Reinhard, P. M. Dinh, and E. Suraud. Laser-driven nonlinear cluster dynamics. Rev. Mod. Phys., 82:1793, 2010.
    [5] A. McPherson, B.D. Thompson, A.B. Borisov, K. Boyer, and C.K. Rhodes. Multiphoton-induced Xray emission at 4-5 keV from Xe atoms with multiple core vacancies. Nature (London), 370:631–633, 1994.
    [6] K. Raspe, N. Iwe, L. Kazak, B. Krebs, F. Martinez, K.-H. Meiwes-Broer, and J. Tiggesb¨aumker. Ion recoil energy signatures of geometric shells from the coulomb explosion of size-selected silver clusters. J. Phys. Chem. Lett., pages 5952–5959, 2025.


    Wissenschaftliche Ansprechpartner:

    Weitere Informationen
    Josef Tiggesbäumker
    Tel.: +49 381 498 6805
    email: josef.tiggesbaeumker@uni-rostock.de
    Institut für Physik
    Universität Rostock


    Bilder

    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten, Lehrer/Schüler, Studierende, Wirtschaftsvertreter, Wissenschaftler, jedermann
    Physik / Astronomie
    überregional
    Buntes aus der Wissenschaft, Forschungsprojekte
    Deutsch


     

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