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11.09.2025 10:00

Arbeitskämpfe: 2024 Rückgang gegenüber 2023, weiterhin relativ streikintensiv durch Nachwirkungen der Inflationswel

Rainer Jung Abt. Öffentlichkeitsarbeit
Hans-Böckler-Stiftung

    Neue Studie des WSI

    Arbeitskämpfe: 2024 Rückgang gegenüber 2023, doch weiterhin relativ streikintensiv durch Nachwirkungen der Inflationswelle

    Die Wiederherstellung des realen Lohnniveaus nach einer hohen Inflationswelle kostet viel Zeit und Kraft. Dafür wurden auch 2024 viele Arbeitskämpfe geführt – auch wenn die Zahl der Streiks und der ausgefallenen Arbeitstage gegenüber 2023 zurückgegangen ist. Teils mussten Arbeitskämpfe unter schwierigen Bedingungen geführt werden, nicht zuletzt versuchen Arbeitgeber vermehrt, Streiks juristisch zu erschweren, zeigt die neue Arbeitskampfbilanz des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung.*

    Im internationalen Vergleich ist Deutschland weiterhin ein Land mit relativ wenigen Streiktagen.

    Im vergangenen Jahr zählte das WSI 286 Arbeitskämpfe. Das waren 26 weniger als 2023. Dennoch blieb die Zahl der Konflikte im langjährigen Vergleich hoch, so die Studienautoren Thilo Janssen, Dr. Heiner Dribbusch und Prof. Dr. Thorsten Schulten. An Streiks teilgenommen haben 2024 nach ihren Berechnungen 912000 Personen, 55000 mehr als im Vorjahr. Allerdings lag die Zahl der arbeitskampfbedingt ausgefallenen Arbeitstage mit 946000 deutlich unter dem Vorjahreswert von rund 1,5 Millionen (siehe Abbildung 1 in der pdf-Version dieser PM; Link unten). Hintergrund: Die Streiks waren 2024 im Schnitt deutlich kürzer als 2023. Vor allem breite Warnstreiks in der Metall- und Elektroindustrie führten zu Arbeitsniederlegungen mit vielen Teilnehmenden, aber überschaubarer Dauer. Trotz des Rückgangs lag das Arbeitskampfvolumen über dem Mittel der vergangenen zehn Jahre.

    „Das Arbeitskampfjahr 2024 war weiterhin geprägt von dem Versuch der Gewerkschaften, die teils massiven Reallohnverluste während der Inflationskrise auszugleichen“, schreiben die Wissenschaftler. Beschäftigte in Branchen, in denen Tarifverträge mit langen Laufzeiten galten, mussten sich gedulden, bis sie einen Ausgleich für die gestiegenen Lebenshaltungskosten aushandeln konnten. So galt etwa in der Bauwirtschaft noch der Abschluss von 2021. Im vergangenen Jahr kam es dann zur ersten „großen Streikbewegung im Bauhauptgewerbe seit 20 Jahren“ – allerdings erst, nachdem die Arbeitgeber einen Schlichterspruch abgelehnt hatten.

    Nicht in allen Arbeitskämpfen ging es ausschließlich oder in erster Linie ums Geld. Zunehmend schlagen sich im Streikgeschehen auch „Transformationskonflikte“ nieder, wie die Forscher beobachtet haben. Das prominenteste Beispiel dafür sind die Auseinandersetzungen bei VW, wo das Management Standortschließungen und betriebsbedingte Kündigungen angekündigt hatte. Nach Warnstreiks und langen Verhandlungen ist dies abgewendet.

    Oft standen auch die Arbeitsbedingungen im Mittelpunkt. Zum Beispiel Arbeitszeiten, Urlaubstage, Ausgleich für Schicht- und Nachtdienste oder die Reduzierung unbezahlter Wartezeiten im öffentlichen Personennahverkehr. So ging es bei den Berliner Verkehrsbetrieben unter anderem darum, die Mindestwendezeiten heraufzusetzen – also die Erholungszeit, die Bus- oder U-Bahnfahrenden an der Endstation zugestanden wird, bevor sie wieder in die Gegenrichtung starten müssen.

    -Warnstreiks auf Unternehmensebene sind am häufigsten-

    Die meisten Arbeitskämpfe fanden 2024 nicht im Rahmen von Flächentarifverhandlungen statt, sondern auf Haus-, Firmen- oder Konzernebene. Das erklären Janssen, Dribbusch und Schulten damit, dass sich in den vergangenen Jahren viele Unternehmen aus Flächentarifverträgen zurückgezogen haben, worauf sich die Gewerkschaften bemühten, Haustarifverträge abzuschließen. Dies gelinge zwar häufig, dennoch hätten diese sogenannten Häuserkämpfe nur einen begrenzten stabilisierenden Effekt für das gesamte Tarifsystem. Sie finden überwiegend in kleinen und mittleren Unternehmen statt und sind mit einem erheblichen Ressourcenaufwand verbunden. Weitere Streiks gehen auf gewerkschaftliche Anstrengungen zurück, auch in bislang tariflosen Betrieben Tarifverträge zu etablieren.

    Auch wenn die Teilnehmendenzahlen bei den Warnstreiks in der Industrie größer waren, fanden die meisten Arbeitsniederlegungen 2024 in Dienstleistungsbranchen beziehungsweise -betrieben statt. So kommt das WSI auf 137 Arbeitskämpfe im Organisationsbereich von Verdi und 72 bei der IG Metall. Bei den allermeisten Streiks handelt es sich übrigens um Warnstreiks. Unbefristete Erzwingungsstreiks mit vorangegangener Urabstimmung, „aus Gewerkschaftssicht die höchste Eskalationsstufe eines Arbeitskampfes“, sind in Deutschland bereits seit längerem die Ausnahme.

    In vielen Fällen konnten die Beschäftigten ihre Interessen im vergangenen Jahr mithilfe von Arbeitsniederlegungen zumindest teilweise durchsetzen. Jedoch gelang das nicht immer. So musste etwa der Kampf um einen Tarifvertrag bei der Schrott- und Recyclingfirma SRW Metalfloat im Frühjahr 2024 nach 180 Tagen Streik sowie einer anschließenden Aussperrung erfolglos beendet werden. Die Auseinandersetzungen bei Amazon oder Zalando, die sich beide Tarifverträgen verweigern, ziehen sich seit Jahren hin. Auch hier haben Arbeitsniederlegungen bisher keinen Durchbruch gebracht.

    -Arbeitgeber ziehen häufiger vor Gericht-

    Die Forscher resümieren: „Oft sind es vor allem die Arbeitgeber, die keine kompromissfähigen Angebote vorlegen und damit der Gewerkschaftsseite keine Handlungsalternative lassen.“ Deutlich geworden sei dies zuletzt auch „in der Bauindustrie, wo die Arbeitgeber das Ergebnis einer Schlichtung ablehnten, oder bei den öffentlichen Rundfunkanstalten, wo sich die Arbeitgeber sogar einer Schlichtung verweigerten“. Kritisch sehen Janssen, Dribbusch und Schulten zudem die sich häufenden Versuche von Arbeitgebern, Streiks nicht durch Verhandlungen, sondern durch Anrufung von Gerichten abzuwehren.

    Dafür beauftragen Unternehmen häufig spezialisierte Großkanzleien, was auf der Seite der Gewerkschaften Ressourcen bindet und den Einsatz des Druckmittels Streik in manchen Fällen riskant macht. Denn durch das im Grundsatz restriktive, in vieler Hinsicht aber nicht detailliert ausbuchstabierte deutsche Streikrecht besteht die Gefahr, dass ein Streik für unzulässig erklärt wird und die Arbeitgeber hohen Schadenersatz fordern. Etwa wenn ein Streik mehrere Ziele gleichzeitig verfolgt, von denen das Gericht ein einzelnes für ungerechtfertigt erachtet.

    Dr. Ernesto Klengel, wissenschaftlicher Direktor des Hugo Sinzheimer Instituts (HSI) der Hans-Böckler-Stiftung, und sein Dr. Kollege Laurens Brandt sehen darin eine Gefahr für die Streikfreiheit. Zwar halten sie es für unwahrscheinlich, dass die in den vergangenen Jahren etwa von der FDP formulierten Vorschläge zur weiteren Beschränkung des Streikrechts umgesetzt werden. Aber: „In der Diskussion um das Arbeitskampfrecht werden die vielen juristischen Hürden und Einschränkungen, die für die Durchführung von rechtskonformen Streiks bestehen, nicht hinreichend wahrgenommen. Arbeitgeber nutzen die unterschiedlichen Angriffspunkte in strategischer Weise, um Streiks zu unterbinden und zu erschweren. Letztlich befördert dies eine Tendenz zur Verrechtlichung des Streiks, die die Streikfreiheit verkürzt. Diese Entwicklung bereitet auch mit Blick auf die allgemein für erforderlich gehaltene Stärkung der Tarifautonomie Sorgen“, warnen die Juristen in einem Sonderkapitel der Streikbilanz.

    -Internationaler Vergleich: Deutschland weiterhin im Mittelfeld-

    In der internationalen Streikstatistik, bei der das WSI die arbeitskampfbedingten Ausfalltage pro 1000 Beschäftigte im Durchschnitt der vergangenen zehn Jahre miteinander vergleicht, liegt Deutschland weiterhin im Mittelfeld (siehe Abbildung 2 in der pdf-Version). Hierzulande fielen zwischen 2014 und 2023, dem jüngsten Jahr, für das die nötigen internationalen Vergleichsdaten vorliegen, aufgrund von Arbeitskampfmaßnahmen im Jahresdurchschnitt rund 21 Arbeitstage pro 1000 Beschäftigte aus. Im Ländervergleich variiert das relative Arbeitskampfvolumen sehr stark, wobei zuletzt in vielen Ländern überdurchschnittlich viele Arbeitskämpfe geführt wurden, so die WSI-Analyse.

    Deutlich lässt sich eine Spitzengruppe ausmachen. Das höchste Arbeitskampfvolumen hat Kanada, wo zwischen 2014 und 2023 im Jahresdurchschnitt 108 Ausfalltage pro 1000 Beschäftigte zu verzeichnen waren. Es folgen Belgien (107 Tage), Frankreich (102 Tage allein im Privatsektor), Finnland (93 Tage) und Zypern (72 Tage).

    Nach dem Quintett schließt sich ein oberes Mittelfeld an, das Spanien und Norwegen umfasst. Hier fielen im Vergleichszeitraum pro 1000 Beschäftigte durchschnittlich zwischen 41 und 37 Arbeitstage pro Jahr aus. Es folgen Großbritannien (31 Tage) und mit einigem Abstand im Mittelfeld die Niederlande, Deutschland und die USA (21 bzw. 20 Tage) sowie Polen, Dänemark und Irland. 10 Arbeitstage pro Jahr fielen arbeitskampfbedingt im Vergleichszeitraum in Portugal aus. In Österreich, Ungarn, der Schweiz, Schweden sowie der Slowakei sind Arbeitskämpfe sehr selten, die Zahl der Ausfalltage reicht in den zehn Jahren von 2014 bis 2023 von vier bis null im Jahresdurchschnitt.

    -Informationen zur Methodik der WSI-Arbeitskampfbilanz-

    Die seit 2008 veröffentlichte Arbeitskampfbilanz des WSI beruht auf Gewerkschaftsangaben, Pressemeldungen und Medien-Recherchen. Die von der Bundesagentur für Arbeit (BA) veröffentlichten Daten zum Streikgeschehen stützen sich dagegen auf die – oft lückenhaften – Meldungen der Arbeitgeber. Daher wird von der BA meist eine geringere Anzahl von Streikbeteiligten oder Ausfalltagen angegeben.


    Wissenschaftliche Ansprechpartner:

    Thilo Janssen
    WSI-Experte für Europäische Arbeitsbeziehungen und Arbeitskämpfe
    Tel.: 0211-7778-650
    E-Mail: Thilo-Janssen@boeckler.de

    Rainer Jung
    Leiter Pressestelle
    Tel.: 0211-7778-150
    E-Mail: Rainer-Jung@boeckler.de


    Originalpublikation:

    *Thilo Janssen, Heiner Dribbusch, Thorsten Schulten: WSI-Arbeitskampfbilanz 2024, WSI-Report Nr. 106, September 2025, Download: https://www.boeckler.de/de/faust-detail.htm?produkt=HBS-009221

    Die PM mit Abbildungen (pdf): https://www.boeckler.de/data/pm_wsi_2025_09_11.pdf


    Bilder

    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten
    Gesellschaft, Politik, Wirtschaft
    überregional
    Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
    Deutsch


     

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