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15.09.2025 15:35

Humane Organoide und Organ-on-Chip ebnen Weg für Gentherapie gegen Erblindung bei Kinderdemenz

Bianca Hermle Kommunikation und Medien
Universitätsklinikum Tübingen

    Erfolgreicher Wirksamkeitstest im menschlichen Netzhautmodell ermöglicht klinische Studie

    Forschenden ist es gelungen, die Wirksamkeit einer Gentherapie gegen ein Symptom der seltenen Kinderdemenz „CLN2 - Batten-Syndrom“ in einem menschlichen Netzhautmodell nachzuweisen – ohne Tierversuche. Die vom US-Unternehmen Tern Therapeutics entwickelte Therapie konnte in Netzhaut-Organoiden und Retina-on-Chip-Modellen die krankheitsbedingten Prozesse mindern und hat das Potenzial, das Fortschreiten der Erblindung im Patienten zu verhindern. Die Ergebnisse ebneten bereits den Weg für eine klinische Studie in Großbritannien.

    Krankheitsmechanismen im Labor nachgestellt

    Die neuronale Ceroid-Lipofuszinose Typ 2 (CLN2) ist eine sehr seltene erbliche Kinderdemenz, verursacht durch Mutationen im sogenannten TPP1-Gen. Bereits ab dem Kleinkindalter kommt es zu fortschreitender Degeneration von Gehirn und Netzhaut. Die Fotorezeptoren, also die für das Sehen zuständigen Sinneszellen, sind davon besonders betroffen. Betroffene Kinder erblinden innerhalb weniger Jahre und erreichen ohne Behandlung in der Regel nur ein Alter von acht bis zwölf Jahren. Die bislang verfügbaren Therapien können nur das Fortschreiten einiger Krankheitssymptome verlangsamen, aber es gibt keine Behandlung für den Verlust des Sehvermögens.

    Einem Tübinger Forschungsteam vom Institut für Neuroanatomie & Entwicklungsbiologie und dem Institut für Biomedical Engineering ist es nun gelungen, in einem komplexen Modell der menschlichen Netzhaut die Erkrankung realitätsgetreu zu simulieren: sogenannte Retina-Organoide aus Stammzellen in Kombination mit einem „Retina-on-Chip“-Modell. Das Modell bildet die Strukturen und Funktionen der menschlichen Netzhaut in einem etwa 1-Euro-Stück-großen Plastikchip so realitätsnah ab, dass sich die bei CLN2 krankheitstypische Lipofuszin-Ablagerung präzise nachweisen ließ. Im Chip wird die natürliche Mikroumgebung der Netzhautzellen detailgetreu nachgebildet und eine Art künstlicher Blutfluss ermöglicht, der die Zellen wie im Körper dynamisch mit Nährstoffen und Sauerstoff versorgt.

    Gentherapie stoppt Ablagerungen im Modell

    In diesem In-vitro-Krankheitsmodell wurde nun eine von Tern Therapeutics entwickelte Gentherapie (TTX 381) getestet. Ein modifiziertes Virus dient dabei als Transportvehikel. Ähnlich einem kleinen Shuttle überträgt es eine funktionierende Kopie des fehlenden TPP1-Gens präzise in die Netzhautzellen.

    Der sogenannte Adeno-assoziierte Virus-Vektor ist dabei kein Krankheitsüberträger und wird lediglich als eine Art leere Hülle als Shuttleservice genutzt, um das fehlende Gen in die Zellen einzuschleusen. Die Ergebnisse zeigen, dass die Produktion des fehlenden Enzyms wiederhergestellt werden konnte. Die schädlichen Lipofuszin-Ablagerungen gingen durch die Behandlung zurück oder traten erst gar nicht auf. „Unsere Netzhaut‑Organoide zeigen, dass wir Erkrankungen des Auges auf diese Weise realistisch im Labor nachbilden und die Wirksamkeit des gentherapeutischen Ansatzes erfolgreich daran erproben können. Und das in einer für den Menschen aussagekräftigen Art und Weise und ohne dabei auf Tierversuche zurückgreifen zu müssen“, erläutert Forschungsgruppenleiter Dr. Kevin Achberger.

    Dank dieser präklinischen Ergebnisse konnte eine klinische Studie für Kinder mit CLN2-bedingten Netzhautschäden in England genehmigt werden – und das ohne eine vorherige Testung der Wirksamkeit der Gentherapie an Tiermodellen. Die ersten Zwischenergebnisse der klinischen Studie TTX-381 machen zusätzlich Hoffnung. So gibt es bereits erste Anzeichen, dass durch die Gentherapie eine Stabilisierung und sogar Verbesserung des Sehvermögens bei Patientinnen und Patienten erzielt wurde.

    Neue Wege in der Gentherapie

    Parallel zur Netzhauttherapie arbeitet Tern Therapeutics an einer zweiten Gentherapie (TTX-181), die direkt im Gehirn der Betroffenen wirken soll. Ziel ist es, nicht nur die Erblindung zu verhindern, sondern den neurologischen Krankheitsverlauf zu verlangsamen oder sogar zu stoppen und die Lebenserwartung deutlich zu verlängern. „Einer der größten Ängste von Familien, deren Kinder an CLN2 erkrankt sind, ist der Verlust des Sehvermögens. Deshalb war es so wichtig, uns zunächst auf die Behandlung des Sehverlusts bei CLN2 zu konzentrieren. Unserer Therapie hat das Potenzial, die Lebensqualität der kleinen Patientinnen und Patienten erheblich zu verbessern. Wir sind uns jedoch der vielen anderen Herausforderungen bewusst, denen diese Kinder und ihre Familien gegenüberstehen, und entwickeln daher auch Gentherapien zur Behandlung anderer Aspekte der CLN2-Erkrankung“, erklärt Alex M. Bailey, CEO von Tern Therapeutics.

    Bedeutung für die Forschung

    Die Kooperation gilt als eines der ersten Beispiele, in denen der Weg zur klinischen Erprobung von Gentherapien ohne den Einsatz von Tierversuchen für die Wirksamkeitsprüfung möglich wurde. Retina-Organoide in Kombination mit der Organ-on-Chip-Technologie eröffnen neue Möglichkeiten für die Medikamentenentwicklung: Sie können menschliche Erkrankungen zum Teil so realistisch nachbilden, dass sie als fester Bestandteil im Methodenmix zunehmend zum Einsatz kommen. Darüber hinaus haben sie das Potenzial, die Zeit zwischen der Entwicklung eines Medikaments und der Behandlung von Patienten zu verkürzen, was insbesondere für Patienten mit seltenen Krankheiten von entscheidender Bedeutung ist. Denn seltene Erkrankungen sind nicht so selten, wie der Name vermuten mag: Weltweit leiden insgesamt rund 400 Millionen Menschen an einer seltenen Krankheit.

    Über Tern Therapeutics
    Tern Therapeutics (Tern) ist ein privates Biotechnologieunternehmen aus Washington (USA), das 2023 mit einer neuen Vision gegründet wurde, um die Entwicklung transformativer, einmaliger Gentherapien für seltene Krankheiten zu beschleunigen. Tern steht für Integrität, Empathie, Tatkraft, Innovationsgeist und Entschlossenheit und arbeitet in jeder Entwicklungsphase mit Patientengruppen zusammen, um Menschen mit seltenen Krankheiten auf der ganzen Welt Therapien zugänglich zu machen. Die erste klinische Studie am Menschen zur Bewertung von TTX-381 läuft und rekrutiert derzeit Patienten. Weitere Informationen finden Sie unter www.clinicaltrials.gov (NCT05791864). Weitere Informationen über Tern Therapeutics finden Sie unter WWW.TERNTX.COM.


    Originalpublikation:

    https://doi.org/10.1016/j.xcrm.2025.102244


    Bilder

    Das Bild links zeigt das Netzhautorganoid mit den für die CLN2-Erkrankung typischen toxischen Lipofuszinablagerungen (grün), die die Photorezeptoren (rosa) beeinträchtigen. Rechts sind nach der Gentherapie fast keine Ablagerungen mehr zu sehen.
    Das Bild links zeigt das Netzhautorganoid mit den für die CLN2-Erkrankung typischen toxischen Lipofu ...

    Copyright: Kevin Achberger


    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten, Wissenschaftler
    Medizin
    überregional
    Forschungsergebnisse, Forschungsprojekte
    Deutsch


     

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