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25.09.2025 10:23

Schutzschild oder Schleuse? Wenn Wasserstoff auf Stahl trifft

Anna Ettlin Kommunikation
Empa - Eidgenössische Materialprüfungs- und Forschungsanstalt

    Wasserstoff schadet Stählen. Insbesondere hochfeste Stähle, wie sie für den Bau von Brücken, Hochhäusern sowie Öl- und Gas-Infrastruktur eingesetzt werden, sind anfällig auf Versprödung durch atomaren Wasserstoff aus der Umwelt. Die komplexen Mechanismen dahinter sind noch nicht vollumfänglich verstanden. Native Oxidschichten auf Stahl können als Barrieren wirken, die das Eindringen von Wasserstoff in das Werkstück verhindern. Empa-Forschende wollen untersuchen, wie Wasserstoff mit den dünnen Oxidschichten interagiert, und zwar räumlich und zeitlich hoch aufgelöst.

    In der Nacht auf den 11. September 2024 stürzte ein rund 100 Meter langer Abschnitt der Carolabrücke in Dresden in die Elbe. Die Ursache: Risse an der stählernen Spannstruktur der Brücke. Der Schuldige: Wasserstoff. Die Carolabrücke ist längst nicht das erste Bauwerk, dem Wasserstoff zusetzt. Weitere bekannte Beispiele sind der Londoner Wolkenkratzer «122 Leadenhall Street», im Volksmund als «Cheesegrater» bekannt, sowie der Teilneubau der Bay Bridge in San Francisco, bei denen das Versagen der Stahlbolzen Sanierungskosten in Millionenhöhe zur Folge hatte.

    Der Prozess heisst Wasserstoffversprödung. Bestimmte Korrosionsprozesse in Anwesenheit von Wasser setzen an der Oberfläche von Stahlbauteilen atomaren Wasserstoff frei – das kleinste Element des Periodensystems. Dank seiner geringen Grösse diffundiert der Wasserstoff in den Stahl, wo er durch verschiedene Mechanismen Rissbildung begünstigt.

    Dass Wasserstoff Metalle angreift, ist bereits seit dem 19. Jahrhundert bekannt. Vollständig verstanden sind die komplexen Mechanismen hinter der Wasserstoffversprödung allerdings bis heute nicht – trotz zahlreicher Studien. Empa-Forschende aus dem Labor für Fügetechnologie und Korrosion untersuchen nun eine Seite der Wasserstoffversprödung, der bisher sehr wenig Aufmerksamkeit zuteil kam: die Interaktion des Wasserstoffs mit der sogenannten native Oxidschicht auf Stahl.

    Die native Oxidschicht, auch Passivierungsschicht genannt, ist eine dünne Schicht, die sich auf natürliche Weise an der Oberfläche der meisten Metalle und Legierungen bildet. Sie verleiht rostfreien Stählen ihre Korrosionsbeständigkeit. Die Art und die Zusammensetzung der nur wenige Nanometer dicken Schicht unterscheiden sich von Stahl zu Stahl. Gewisse Oxide sind deutlich stabiler und resistenter gegenüber Wasserstoff als andere. Sie schützen den Stahl besser vor Versprödung. Dies wollen die Empa-Forscherinnen Chiara Menegus und Claudia Cancellieri untersuchen. Ein besonderes Augenmerk legen sie dabei auf die Grenzfläche zwischen dem Metall und seiner Oxidschicht. «Wasserstoff sammelt sich im Material jeweils dort an, wo Unordnung herrscht», erklärt Doktorandin Menegus. «Die Grenzfläche zwischen dem Metall und dem Oxid ist eine solche Stelle.»

    Innovativer Versuchsaufbau ...

    Die Forschung an Wasserstoff im Stahl ist herausfordernd. Das leichte Element lässt sich mit gängigen Analysemethoden gar nicht bestimmen. Auch müssen die Experimente unter Ausschluss aller weiteren Umweltfaktoren wie Sauerstoff und Feuchtigkeit stattfinden – ansonsten entstehen komplexe Interaktionen und Korrosionsprozesse, die den Wasserstoffeinfluss maskieren. Die letzte grosse Herausforderung ist die Grenzfläche selbst: «Es ist schwierig, eine verborgene Grenzfläche im Inneren des Materials zu untersuchen, ohne die Probe zu zerstören», weiss Claudia Cancellieri, Forschungsgruppenleiterin im Labor für Fügetechnologie und Korrosion.

    Diese Herausforderungen meistern die Forscherinnen mit einem innovativen Versuchsaufbau. Im ersten Jahr ihres Doktorats hat Chiara Menegus eine elektrochemische Zelle entwickelt, in der die Stahlprobe befestigt wird. Auf einer Seite der Probe befindet sich Wasser, auf der anderen das inerte Edelgas Argon. Durch Anlegen von elektrischer Spannung wird aus dem Wasser atomarer Wasserstoff generiert. Er diffundiert durch die dünne Probe, bis es die Oxidschicht auf der gegenüberliegenden Seite erreicht und hier mit dem nativen Oxid interagiert. «So können wir die Interaktion von atomarem Wasserstoff mit dem nativen Oxid von anderen Umwelteinflüssen isolieren», erklärt Menegus. Sämtliche Schritte – vom Zusammenbau der Zelle bis zur Analyse der Probe – finden unter Schutzatmosphäre statt, in einer Glovebox.

    ... und fortschrittliche Methoden

    Für die Charakterisierung der Proben greifen die Forscherinnen auf eine in der Schweiz einmalige Analysetechnik zurück: Die sogenannte harte Röntgenphotoelektronenspektroskopie (engl. «Hard X-ray Photoelectron Spectroscopy», kurz HAXPES – s. Infobox). Diese Spektroskopiemethode nutzt hochenergetische Röntgenstrahlung, um die Art und den chemischen Zustand von Atomen in einem Material zu bestimmen, und zwar nicht nur an der Oberfläche, sondern bis zu 20 Nanometer in der Tiefe – genug, um die rund fünf Nanometer dicke Oxidschicht sowie die darunterliegende Grenzfläche zum Stahl zu erfassen.

    Zwar lässt sich der Wasserstoff selbst damit nicht direkt erfassen – seine Auswirkungen auf die gesamte Oxidschicht konnten die Forscherinnen jedoch bereits deutlich demonstrieren. «Die ersten Versuche zeigen, dass der Wasserstoff die schützende Oxidschicht abbaut», sagt Menegus. Nun will sie die Oxide auf unterschiedlichen Eisen-Chrom-Legierungen sowie auf einigen gängigen Stählen untersuchen. Danach werden die Forscherinnen zusammen mit dem «Ion Beam Physics Lab» der ETH Zürich den Wasserstoffgehalt in den Proben direkt bestimmen – in Echtzeit, mit einer aufwändigen Teilchenbeschleuniger-Methode. «Wir hoffen, dadurch den Effekt von Wasserstoff auf die nativen Oxidschichten besser zu verstehen und besonders resistente Oxidformen zu finden», resümieren Menegus und Cancellieri. Ihre Erkenntnisse könnten zum Bau von langlebigeren Brücken führen – sowie zu besserer Infrastruktur für die Lagerung und den Transport von grünem Wasserstoff.

    Infobox: HAXPES

    HAXPES steht für «Hard X-ray Photoelectron Spectroscopy» – harte Röntgenphotoelektronenspektroskopie. Diese Analysemethode beruht auf dem photoelektrischen Effekt, für dessen Entdeckung Albert Einstein 1921 den Nobelpreis in Physik erhielt. Mit Röntgenstrahlung werden aus dem Material Elektronen «herausgeschlagen», die Rückschlüsse auf die chemische Beschaffenheit der Probe ermöglichen. Während herkömmliche Röntgenphotoelektronenspektroskopie auf die Oberfläche des Materials beschränkt ist, dringt die «harte» Version – HAXPES – dank hochenergetischer Strahlung deutlich tiefer ins Material ein und erlaubt eine präzise Charakterisierung von mehrschichtigen Strukturen und inneren Grenzflächen. Anwendungen hat HAXPES in der Entwicklung von Mikroelektronik-Komponenten, Festkörperbatterien und funktionalen Dünnschichten sowie in Katalyse und Korrosionsforschung. Die einzige Anlage in der Schweiz steht im Labor für Fügetechnologie und Korrosion an der Empa.


    Wissenschaftliche Ansprechpartner:

    Dr. Claudia Cancellieri
    Joining Technologies and Corrosion
    Tel. +41 58 765 43 24
    claudia.cancellieri@empa.ch

    Chiara Menegus
    Joining Technologies and Corrosion
    Tel. +41 58 765 39 63
    chiara.menegus@empa.ch


    Bilder

    Empa-Forscherinnen Chiara Menegus (hinten) und Claudia Cancellieri wollen untersuchen, wie Wasserstoff mit den dünnen Oxidschichten auf hochfesten Stählen interagiert.
    Empa-Forscherinnen Chiara Menegus (hinten) und Claudia Cancellieri wollen untersuchen, wie Wassersto ...

    Copyright: Empa

    Chiara Menegus und Claudia Cancellieri an der HAXPES-Anlage der Empa.
    Chiara Menegus und Claudia Cancellieri an der HAXPES-Anlage der Empa.

    Copyright: Empa


    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten
    Bauwesen / Architektur, Verkehr / Transport, Werkstoffwissenschaften
    überregional
    Forschungsprojekte
    Deutsch


     

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