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Skandinavisten am Exzellenzcluster untersuchen Erinnerungskulturen an das vorchristliche skandinavische Heidentum vom Mittelalter bis heute – „Mutige Entdecker, starke Krieger: Heutige Vorstellungen über heidnische Wikinger basieren auf weit über hundert Jahre später entstandenen christlichen Berichten“ – Roland Scheel: Unsichere Quellenlage wird oft verschleiert – „Stereotype über nordische Mythologie wurden auch vielfach politisch vereinnahmt, etwa in der NS-Zeit“ – Internationale Tagung vom 6. bis 7. November
Heutige Vorstellungen von den Wikingern und der heidnischen nordischen Mythologie lassen sich Skandinavisten zufolge wissenschaftlich vielfach nicht belegen. „Sie fußen im Kern auf weit über hundert Jahre später entstandenen Berichten christlicher Gelehrter im Hochmittelalter, da außer kurzen Runeninschriften keine geschriebenen Texte aus der Ursprungszeit überliefert sind“, sagt der Skandinavist Roland Scheel vom Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Uni Münster zur Ankündigung der internationalen Konferenz „Imagining Nordic Paganism” („Imaginationen des nordischen Heidentums“) vom 6. bis 7. November. „Mit der Wikingerzeit, die nach heutiger Definition vom 8. bis 11. Jahrhundert dauerte, und der vorchristlichen nordischen Mythologie verbinden viele Menschen heute ein relativ klares Bild, das etwa aus den zahlreichen Wikinger-Filmen, Serien, Videospielen oder Museen stammt. Dazu gehört das Stereotyp des mutigen Entdeckers, starken Kriegers und Seefahrers. Doch so klar ist das, was wir über diese Zeit wissen, nicht.“ Große Forschungserzählungen zum Heidentum verschleiern laut Scheel bis heute, auch in manchen Ausstellungen und Medienbeiträgen, dass die Texte, auf die sie sich beziehen, nur „erinnerte Geschichte“ enthalten.
Der Begriff „Wikinger“ wird heutzutage überwiegend mit positiven Vorstellungen verbunden, wie Roland Scheel sagt. „Der vorchristlichen skandinavischen Gesellschaft wird etwa eine besondere Kriegerkultur, eine außergewöhnlich gute Stellung der Frau im Vergleich zum Mittelalter und die Freiheit von religiösen Zwängen zugeschrieben.“ Das positive Bild des skandinavischen Heidentums prägt Identitäten bis heute, so der Forscher. „Ein Beispiel sind neuheidnische Gruppen, eine religiöse und kulturelle Strömung, die sich am vorchristlichen Heidentum orientiert und deren Anhänger in ihrer Selbstwahrnehmung das skandinavische Heidentum leben – oft in Abgrenzung zu monotheistischen Religionen wie dem Christentum.“ Negative Aspekte wie die Brutalität der Plünderungszüge der Wikinger spielen für die heutige Rezeption des vorchristlichen Heidentums eine weniger prominente Rolle, wie Scheel ausführt. Diese auffallend positive Bedeutungsaufladung stehe im Kontrast zur Rezeption anderer mittelalterlicher Phänomene wie den Kreuzzügen, die heute Bilder von Gewalt und religiöser Unterdrückung hervorriefen. „Vorstellungen über die Wikinger sind in Popkultur, Werbung und sogar in politisch motivierten Vorhaben anzutreffen. Ein Beispiel ist die vom Europarat zertifizierte Wikinger-Kulturroute, die zahlreiche historische Sehenswürdigkeiten umfasst und das ‚Erbe der Wikinger‘ als einendes Element in Europa inszeniert.“
„Auch Richard Wagners Figur der Walküre ist ein Stereotyp“
Die Skandinavisten Roland Scheel und Simon Hauke untersuchen am Exzellenzcluster, wie das heutige Bild vom ‚heidnischen Norden‘ im Mittelalter entstand und sich über die Zeit entwickelte. Vorstellungen über das skandinavische Heidentum seien über die Jahrhunderte weitergegeben und aus verschiedenen Blickwinkeln und Motiven immer neu verarbeitet worden, so der Forscher. Das reiche von literarischen Werken wie der „Edda“ des isländischen Gelehrten Snorri Sturluson aus dem 13. Jahrhundert, die Götter- und Heldensagen nacherzählt, über Jacob Grimm, der die mittelalterlichen skandinavischen Texte nutzte, bis zu Reichskanzler Otto von Bismarck (1815–1898), der sich in Reichstagsreden auf die „Edda“ bezog. „Für alle Epochen gilt: Wie Menschen zu ihrer jeweiligen Zeit das skandinavische Heidentum imaginierten und anderen vermitteln wollten, sagt viel über deren Ziele und Mentalitäten aus. Unsere Forschung ermöglicht einen Blick hinter die Kulissen unseres eigenen Wissens – oder dessen, was wir zu wissen meinen.“
Historisch betrachtet wurde das Bild des ‚heidnischen Nordens‘ nach den Worten des Wissenschaftlers vielfach politisch vereinnahmt. „Das prominenteste Negativbeispiel ist die Instrumentalisierung der nordischen Mythologie durch die völkische Bewegung und die Nationalsozialisten. Sie missbrauchten die mittelalterlichen Schriftquellen massiv zur Fundierung der Rasse-Ideologie.“ Anknüpfungspunkte zum Rechtsextremismus gebe es bis in die Gegenwart, insgesamt sei die Rezeption aber heute viel heterogener und decke ein sehr weites Spektrum an Interessen und Formen ab. Auch das Feld der neuheidnischen Gruppen sei heterogen.
Vorstellungen über die nordische Mythologie wurden und werden den Forschern zufolge also auch in Kunst und Literatur verarbeitet. „Ein weiteres Beispiel dafür ist Richard Wagners Oper ‚Ring des Nibelungen‘“, erläutert Simon Hauke. „Viele heutige Vorstellungen über die nordische Mythologie stammen aus der Inszenierung der Uraufführung. Dazu zählt die Figur der Walküre, der Wagner das Kostüm der betont femininen Kriegerin verleiht. Heute wird dieses Walkürenbild häufig übernommen, etwa auf Albencovern von Metalbands oder Yu-Gi-Oh!-Karten.“ Der eigentlichen Quellenlage entspreche dieses Bild aber nur bedingt, so Hauke. „Walküren übernehmen in den altnordischen Quellen sehr unterschiedliche Rollen: die Auswahl der Schlachtentoten, deren Transport nach Valhöll (Walhalla), die Rolle der Geliebten eines menschlichen Helden, aber auch der jenseitigen Schankmaiden. „Walküren greifen in den Textquellen oft in die Kämpfe der Menschen ein, was ihre Figur aber in der ursprünglichen Mythologie genau ausmacht und ob sie als Kriegerin gesehen wurde, ist unklar – sicher ist heute nur, dass dies lediglich eine von vielen Facetten einer Figur war, die in der späteren Rezeption auf ihre Weiblichkeit und ihr Kriegertum reduziert wurde.“
Das Forschungsprojekt von Roland Scheel und Simon Hauke trägt den Titel „Paganisierungen: Erinnertes Heidentum als Element skandinavischer und europäischer Identitäten“. Der Fokus der Konferenz „Imagining Nordic Paganism. Cultural Memories and Scholarly Thought Since the Middle Ages” liegt auf der historischen Rezeption des skandinavischen Heidentums. „Wir decken ein breites Themenfeld ab, etwa die Beziehung von Geschlecht und Heidentum, die räumliche Dimension seiner Rezeption und nicht zuletzt den identitätsstiftenden Rückgriff auf das Heidentum in der Geschichtsschreibung und der Geschichte der Skandinavistik. Das zeigt eine große zeitliche Tiefe der Rezeption des skandinavischen Heidentums von den ersten Quellen im Mittelalter bis zur modernen Forschung und Literatur auf“, erläutert Scheel. Auf der Konferenz sprechen internationale Forschende aus der Skandinavistik und benachbarten Disziplinen, darunter die Skandinavistin Jóhanna Katrín Friðriksdóttir (Oslo), die Runologin Alessia Bauer (Paris), der Skandinavist Jonas Wellendorf (Berkeley) und der Islamwissenschaftler Philip Bockholt vom Exzellenzcluster. (fbu/vvm)
https://www.uni-muenster.de/imperia/md/content/religion_und_politik/aktuelles/fl... Programm zur Tagung „Imagining Nordic Paganism”
Skandinavist Roland Scheel
Copyright: Institut für Skandinavistik, Universität Münster
Skandinavist Simon Hauke
Quelle: Richard Sliwka
Copyright: Exzellenzcluster „Religion und Politik“
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, jedermann
Geschichte / Archäologie, Gesellschaft, Kulturwissenschaften, Politik, Religion
überregional
Buntes aus der Wissenschaft, Forschungs- / Wissenstransfer
Deutsch

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