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Wissenschaft
Die Diagnose Epilepsie ist lebensverändernd. Neben der optimalen Therapie bewegen die Betroffenen zahlreiche Themen. DGN-Kongress-Präsident Prof. Dr. Felix Rosenow beantwortet häufig gestellte Fragen. Besonders dringlich ist es aus seiner Sicht, das 2,5-fach erhöhte Mortalitätsrisiko von Epilepsie-Patientinnen und -Patienten zu adressieren. Hier kann eine optimale Therapie, auch von Ko-Morbiditäten, helfen.
Wie wahrscheinlich ist es, dass ich weitere Anfälle bekomme?
Insgesamt liegt die Wahrscheinlichkeit, nach einem ersten Anfall weitere zu haben, bei etwa 50 %. Das hängt aber stark von verschiedenen Faktoren ab. So liegt das Risiko niedriger (bei ca. 20–30 %), wenn der erste Anfall innerhalb einer Woche nach einer akuten Hirnschädigung, z. B. einem Schlaganfall, auftritt. Eine medikamentöse Therapie ist in diesem Fall nicht angezeigt. Wenn ein erster Anfall aber erst nach 14 Tagen oder nach sechs Monaten auftritt, liegt das Risiko hingegen bei ca. 60–70 % und eine Therapie ist angezeigt. Das Risiko ist auch höher, wenn im MRT eine strukturelle Läsion, z. B. ein Kavernom oder ein Hirntumor, nachgewiesen wird, wenn das EEG pathologisch verändert ist, insbesondere wenn epilepsietypische Potenziale (z. B. sogenannte Sharp Waves) vorliegen, wenn fokale Anfallssymptome (z. B. eine Aura, also ein Sinneseindruck als Vorgefühl vor dem Anfall, oder ein Zucken der linken Hand) aufgetreten sind oder sich andere Hinweise auf eine fokale Epilepsie ergeben. Das Risiko erneuter Anfälle ist hingegen niedriger, wenn ein klarer Auslöser vorlag, z. B. eine hochfieberhafte Erkrankung, ein massiver Schlafentzug, die Einnahme von Medikamenten oder Substanzen, die Anfälle auslösen konnten (z. B. Antibiotika, Kokain etc.).
Kann ich an einer Epilepsie versterben?
Ja, denn es kann bei epileptischen Anfällen zu schweren Stürzen und Unfällen kommen. Letztere können auch durch ein eingeschränktes Bewusstsein während der Anfälle verursacht werden, das zu gefährlichen Handlungen führt (z. B. im Anfall auf die Gleise laufen oder die Arbeit an Maschinen fortsetzen). Bekannt ist, dass Patientinnen und Patienten mit einer Epilepsie auch ein 2,5-fach erhöhtes Sterblichkeitsrisiko haben.
Häufige Todesursachen sind neben Unfällen und den einer Epilepsie zugrunde liegenden Grunderkrankungen (z. B. Hirntumor) der sogenannte SUDEP (plötzlicher unerwarteter Tod bei Epilepsie), auf dessen Konto etwa 30 % aller Todesfälle von Epilepsie-Patientinnen und -Patienten gehen, die bis zum 60. Lebensjahr versterben [1, 2]. Allein 7–8 % der Betroffenen, die vor dem 20. Lebensjahr an einer Epilepsie erkranken, versterben im Laufe des Lebens an einem SUDEP [3]. Patientinnen und Patienten mit fokalen Epilepsien, die unter Therapie weitere Anfälle, vor allem große Anfälle, haben, haben das höchste SUDEP-Risiko. Weitere Risikofaktoren sind es, allein zu leben und die Medikation nicht regelmäßig einzunehmen. Man kann also sein SUDEP-Risiko durch die Therapietreue minimieren, worüber alle neu diagnostizierten Patientinnen und Patienten aufgeklärt werden sollten [4]. Von besonderer Wichtigkeit ist aber auch, dass die Therapie auf den einzelnen Patienten/die einzelne Patientin zugeschnitten ist. Die moderne Epileptologie bietet nämlich zahlreiche Optionen – medikamentös wie nicht medikamentös –, um eine Anfallsfreiheit zu erreichen.
Welche weiteren Krankheitsrisiken gibt es?
Neben einer erhöhten Mortalität durch Unfälle und SUDEP geht eine Epilepsie mit zahlreichen sozialen und psychischen Risiken einher. Hierzu gehören der Verlust des Arbeitsplatzes, eine inadäquate Beschulung, eine verminderte soziale und ökonomische Teilhabe, Stigmatisierung und psychische Störungen, wie z. B. eine Depression. Diese stellt eine häufige psychiatrische Komorbidität dar, die etwa 15–25 % der Epilepsie-Betroffenen aufweisen [5]. Epilepsie-Patientinnen und -Patienten ohne vorbestehende psychiatrische Störungen haben ein doppelt so hohes Suizidrisiko wie die Allgemeinbevölkerung [6]. Neurologinnen und Neurologen haben dieses Risiko im Blick und führen Betroffene bei Bedarf einer Depressionstherapie zu. In einigen Fällen kann eine Depression auch durch die Epilepsie-Medikamente begünstigt werden, in dem Fall wird die Medikation verändert.
Welche Therapien gibt es gegen Epilepsie?
Die Therapie einer Epilepsie hat drei Säulen: Beratung, Medikamente (sog. Anfallssuppressiva) und, bei Patientinnen und Patienten, die darauf nicht ansprechen, epilepsiechirurgische Eingriffe. Dabei hängt die Auswahl der Therapie vom vorliegenden Epilepsie-Syndrom ab. Vor allem ist es wichtig zu unterscheiden, ob eine fokale, von einer umschriebenen Hirnregion ausgehende, oder eine generalisierte Epilepsie vorliegt, bei der die Anfälle gleich zu Beginn das gesamte Hirn betreffen. Daher ist es entscheidend, früh die richtige Diagnose zu stellen.
Welche Nebenwirkungen haben die Medikamente?
Viele der anfallsunterdrückenden Medikamente werden auch bei dauerhafter Einnahme sehr gut vertragen. Häufige Nebenwirkungen sind, vor allem wenn die Medikamente sehr hoch dosiert werden, Müdigkeit, Schwindel und Energielosigkeit. Die Beschwerden verschwinden meistens aber wieder nach Dosisreduktion. Daneben gibt es allergische Reaktionen (besonders bei Lamotrigin und Cenobamat), die meist früh nach Beginn der Gabe auftreten, selbst bei niedrigen Dosen. Auch kann es zu substanzspezifischen Nebenwirkungen kommen, wie z. B. Reizbarkeit, Depression, Abfall der Natriumkonzentration im Blut oder Obstipation. Einige Substanzen sind teratogen, d. h., sie können bei schwangeren Frauen das ungeborene Kind schädigen (z. B. Valproinsäure und Topiramat, siehe unten).
Darf ich Auto fahren?
In aller Regel geht die Fahreignung nach einem ersten Anfall für mindestens 3–12 Monate verloren. Bei einer Epilepsie mit wiederholt auftretenden Anfällen darf dauerhaft nicht gefahren werden. Man muss mindestens 12 Monate anfallsfrei sein und die Anfallssuppressiva regelmäßig einnehmen, um wieder die Fahreignung für Fahrzeuge der Gruppe 1 zum privaten Gebrauch zu erhalten. Berufliches Fahren, besonders von Fahrzeugen der Gruppe 2 (>3,5 Tonnen, Lkw, Bus), ist deutlich strenger geregelt (10-jährige Anfallsfreiheit ohne Medikation bzw. nach Absetzen derselben). Berufe wie Lkw-Fahrer oder Taxifahrer müssen daher in der Regel aufgegeben werden.
Deshalb ist die Frage relevant, wie hier geholfen werden kann und ob autonomes Fahren eine Lösung sein kann. Zu Letzterem wird es am 15.11. auf der Abschlussveranstaltung des DGN-Kongresses einen eigenen Vortrag von Herrn Dr. Mihiar Ayoubi, BMW, geben. Bislang existieren noch keine erschwinglichen Lösungen auf diesem Gebiet, welche die Mobilitätsprobleme von Patientinnen und Patienten mit Epilepsie verbessern.
Kann ich trotz Epilepsie und trotz Medikamenteneinnahme Kinder haben?
Ja, die allermeisten Epilepsie-Patientinnen und -Patienten können Kinder bekommen, stillen und eine Familie gründen. Darüber hinaus sind nur wenige Epilepsie-Formen erblich. Schon vor einer Schwangerschaft muss die Medikation überprüft und ggf. angepasst werden: Einige der Medikamente, die zur Epilepsie-Behandlung eingesetzt werden, vor allem die Valproinsäure, können das ungeborene Kind schädigen. Dank verschiedener nationaler und internationaler Register zu Epilepsie und Schwangerschaft, wie beispielsweise des EURAP-Registers (https://eurapinternational.org), ist heute bekannt, welche Medikamente in der Schwangerschaft sicher eingesetzt werden können und welche dringend gemieden werden sollten, um schwere Missbildungen oder auch einen Autismus zu vermeiden [7, 8]. Daher sollten Patientinnen und ihre Partner sich heute rechtzeitig vor einer möglichen oder geplanten Schwangerschaft von Neurologinnen/Neurologen und Gynäkologinnen/Gynäkologen beraten lassen und die Medikamente anpassen. Auch eine Folsäureprophylaxe wird empfohlen, um das Risiko von Fehlbildungen, vor allem des Rückenmarks, zu reduzieren. Erfreulicherweise ist es in den letzten beiden Dekaden gelungen, die Rate an Missbildungen, die durch Medikamente aufgetreten sind, um mehr als ein Viertel von 6,1 % auf heute 3,7 % zu senken [7]. Die große Mehrzahl aller Patientinnen entbindet auf natürlichem Wege gesunde Kinder und auch das Stillen wird in aller Regel empfohlen.
Literatur
[1] Devinsky O, Hesdorffer DC, Thurman DJ, Lhatoo S, Richerson G. Sudden unexpected death in epilepsy: epidemiology, mechanisms, and prevention. Lancet Neurol. 2016 Sep;15(10):1075-88. doi: 10.1016/S1474-4422(16)30158-2. Epub 2016 Aug 8. PMID: 27571159.
[2] Ryvlin P, Nashef L, Lhatoo SD, Bateman LM, Bird J, Bleasel A, Boon P, Crespel A, Dworetzky BA, Høgenhaven H, Lerche H, Maillard L, Malter MP, Marchal C, Murthy JM, Nitsche M, Pataraia E, Rabben T, Rheims S, Sadzot B, Schulze-Bonhage A, Seyal M, So EL, Spitz M, Szucs A, Tan M, Tao JX, Tomson T. Incidence and mechanisms of cardiorespiratory arrests in epilepsy monitoring units (MORTEMUS): a retrospective study. Lancet Neurol. 2013 Oct;12(10):966-77. doi: 10.1016/S1474-4422(13)70214-X . Epub 2013 Sep 4. PMID: 24012372.
[3] Thurman DJ, Logroscino G, Beghi E, Hauser WA, Hesdorffer DC, Newton CR, Scorza FA, Sander JW, Tomson T; Epidemiology Commission of the International League Against Epilepsy. The burden of premature mortality of epilepsy in high-income countries: A systematic review from the Mortality Task Force of the International League Against Epilepsy. Epilepsia. 2017 Jan;58(1):17-26. doi: 10.1111/epi.13604. Epub 2016 Nov 26. PMID: 27888514.
[4] Wadle NE, Schwab C, Seifart C, von Podewils F, Knake S, Willems LM, Menzler K, Schulz J, Conradi N, Rosenow F, Strzelczyk A. Prospective, longitudinal, multicenter study on the provision of information regarding sudden unexpected death in epilepsy to adults with epilepsy. Epilepsia. 2023 Feb;64(2):406-419. doi: 10.1111/epi.17481. Epub 2022 Dec 28. PMID: 36546828.
[5] Mula M, Kanner AM, Jetté N, Sander JW. Psychiatric Comorbidities in People With Epilepsy. Neurol Clin Pract. 2021 Apr;11(2):e112-e120. doi: 10.1212/CPJ.0000000000000874. PMID: 33842079; PMCID: PMC8032418.
[6] Christensen J, Vestergaard M, Mortensen PB, Sidenius P, Agerbo E. Epilepsy and risk of suicide: a population-based case-control study. Lancet Neurol. 2007 Aug;6(8):693-8. doi: 10.1016/S1474-4422(07)70175-8. PMID: 17611160.
[7] Battino D, Tomson T, Bonizzoni E, Craig J, Perucca E, Sabers A, Thomas S, Alvestad S, Perucca P, Vajda F; EURAP Collaborators. Risk of Major Congenital Malformations and Exposure to Antiseizure Medication Monotherapy. JAMA Neurol. 2024 May 1;81(5):481-489. doi: 10.1001/jamaneurol.2024.0258. PMID: 38497990; PMCID: PMC10949148.
[8] Hernández-Díaz S, Straub L, Bateman BT, Zhu Y, Mogun H, Wisner KL, Gray KJ, Lester B, McDougle CJ, DiCesare E, Pennell PB, Huybrechts KF. Risk of Autism after Prenatal Topiramate, Valproate, or Lamotrigine Exposure. N Engl J Med. 2024 Mar 21;390(12):1069-1079. doi: 10.1056/NEJMoa2309359. PMID: 38507750.
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Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Ernährung / Gesundheit / Pflege, Medizin
überregional
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Deutsch

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