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11.11.2025 16:30

Unheilbar war gestern? Aktuelle Meilensteine der ALS-Forschung

Dr. Bettina Albers Pressestelle der DGN
Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V.

    Zehn Jahre nach der „Ice Bucket Challenge“ hat sich weitgehend unbemerkt von der breiten Öffentlichkeit eine Forschungssensation ereignet: Bestimmte genetische Formen der amyotrophen Lateralsklerose (ALS) sind medikamentös kontrollierbar und die funktionellen Einschränkungen der Betroffenen zum Teil sogar reversibel. Das ist nicht nur der erste Schritt in Richtung Heilbarkeit der ALS, sondern zeigt auch, dass im Zuge der neurodegenerativen Erkrankung weniger unwiederbringlicher axonaler Strukturverlust stattfindet, als bisher angenommen wurde. Diese Erkenntnis hat über die ALS hinaus Bedeutung und gibt Zuversicht.

    Kaum eine andere Krankheit ist so sehr gefürchtet wie die ALS: Es kommt zu Muskelschwund, Muskelschwäche und im Verlauf zu Lähmungen. Später ist auch die Muskulatur im Kopf-Hals-Bereich betroffen, wodurch Probleme beim Kauen, Schlucken und Sprechen entstehen. Lebensbegrenzend wird die Schwäche der Atemmuskulatur, die im Verlauf weniger Jahre entstehen kann. Die meisten Betroffenen erkranken in einem Alter zwischen 60 und 80 Jahren, genetische Formen manifestieren sich aber schon früher, sodass auch viele jüngere Menschen die Diagnose ALS erhalten. Jüngst machte beispielsweise der 52-jährige Schauspieler Eric Dane, bekannt aus „Grey’s Anatomy“, öffentlich, an ALS erkrankt zu sein.

    Eine kurative Therapie gab es bislang nicht; mit dem Medikament Riluzol wird im Sinne einer „krankheitsmodifizierenden Therapie“ versucht, das Fortschreiten zu verlangsamen. In erster Linie ist die Behandlung aber symptomatisch, um Beschwerden (z. B. die Sprech- und Schluckstörung, Muskelkrämpfe) zu lindern und Komplikationen vorzubeugen. Nun, zehn Jahre nach der „Ice Bucket Challenge“, zeichnet sich jedoch ein bedeutsamer therapeutischer Fortschritt ab, denn es gibt erste zielgerichtete Therapien, die das Fortschreiten von genetischen Varianten der ALS deutlich verlangsamen oder sogar zum Stillstand bringen können. „Das ist eine Forschungssensation, nach all den Jahren und Jahrzehnten mit negativen Studienergebnissen“, so bewertet Prof. Dr. Thomas Meyer, Charité – Universitätsmedizin Berlin, Mitglied der DGN-Kommission Motoneuron- und Neuromuskuläre Erkrankungen, diese Entwicklungen.

    Antisense-Oligonukleotide bei genetischer ALS

    Es gibt Formen der ALS, die auf bestimmte Genmutationen zurückzuführen sind. Mit Antisense-Oligonukleotiden (ASO) können mutierte Gene stillgelegt werden (sog. gene silencing), die Therapien greifen somit direkt an der Krankheitsursache an. Da ASOs die Blut-Hirn-Schranke nicht passieren können, werden diese Medikamente intrathekal (d. h. in den Liquorraum) injiziert.

    Eine Form der genetisch bedingten ALS ist auf Mutationen im Superoxid-Dismutase-1-Gen (SOD1) zurückzuführen. Das ASO Tofersen bindet an die mRNA des SOD1-Gens und blockiert die Produktion des SOD1-Proteins, das bei Betroffenen die Motoneurone zerstört. Im Rahmen einer Kohortenstudie [1] wurden in acht multidisziplinären ALS-Zentren in Deutschland 16 Betroffene mit SOD1-ALS im Schnitt elf Monate lang monatlich intrathekal mit Tofersen behandelt. Als Biomarker für den Grad der Schädigung und Neurodegeneration wurde die Konzentration der Neurofilament-Leichtkette (NfL) im Liquor beurteilt. Bei 58 % der Untersuchten kam es zu einem signifikanten NfL-Rückgang; nur bei einer Person mit heterozygoter D91A-SOD1-Mutation fielen die NfL-Spiegel nicht ab, sondern stiegen. Diese Ergebnisse hinsichtlich des Laborparameters NfL korrelierten auch mit den von den Betroffenen selbst angegebenen Beurteilungen ihres klinischen Zustands. 60 % berichteten eine eindeutige Verbesserung der Zielsymptome.

    Ein weiteres Risikogen für die ALS ist das FUS-Gen, das bei der DNA-Reparatur und dem RNA-Metabolismus beteiligt ist. Diese Mutationen gehen mit einer besonders aggressiven Erkrankungsform einher, sie führen zu einer „Gain-of-Function“-Toxizität. Das ASO Jacifusen legt das mutante FUS-Gen still und wurde in einer aktuellen Fallserie [2] untersucht. Die 12 Patientinnen und Patienten (median 26 Jahre alt, 58 % weiblich) erhielten das Medikament über einen Zeitraum von 2,8 bis 33,9 Monaten. Als Surrogatmarker für die ALS-Progression wurde auch hier die NfL-Konzentration im Liquor beurteilt – es kam zu einer Senkung von bis zu 82,8 %. Vor allem Personen mit geringer Symptomlast bei Studieneinschluss schienen auch klinisch zu profitieren: Ein Patient war zu Studienbeginn asymptomatisch und blieb es über drei Jahre, bei einer 16-jährigen Patientin wurde sogar eine objektive funktionelle Erholung dokumentiert. „Damit stellt sich die Frage nach dem richtigen Zeitpunkt für den Therapiebeginn. Möglicherweise sind wir umso erfolgreicher, je früher wir beginnen“, so Meyer.

    Ganz neu: ein Antikörper gegen SOD1-Proteine bei SOD1-ALS und sporadischer ALS

    Die Ablagerung von veränderten („fehlgefalteten“) SOD1-Proteinen in motorischen Nervenzellen ist ein zentrales Merkmal der ALS. Sie kommt vor allem bei Personen mit Mutation auf dem SOD1-Gen vor, sie kann aber auch bei einer sporadischen, nicht genetisch bedingten ALS auftreten. Seit geraumer Zeit steht ein monoklonaler Antikörper (AP-101) zur Verfügung, der auf fehlgefaltete SOD1-Proteine abzielt und sie „abräumt“.

    Aktuell wurden erste Ergebnisse einer Phase-2-Studie bekannt gegeben [3]. Untersucht wurde AP-101 bei 52 Patientinnen und Patienten mit sporadischer ALS und bei 21 mit SOD1-ALS. Demnach erfüllte das Medikament alle Sicherheitsendpunkte. In der Meldung des Herstellers heißt es darüber hinaus, dass nach 12-monatiger Behandlung bedeutsame Veränderungen bei klinischen Ergebnisparametern in Bezug auf Überleben und nicht invasive Beatmung sowie eine Stabilisierung der klinischen Krankheitsstadien und der Neurofilament-Biomarker beobachtet wurde. Die Vollpublikation der Studie steht noch aus.

    „Vorteile von Antikörpern sind, dass sie als einfache Infusion gegeben werden können und nicht in den Nervenwasserraum injiziert werden müssen“, erklärt Prof. Meyer. Von besonderer Bedeutung ist für den Experten jedoch, dass damit womöglich ein „proof of principle“ gelungen ist, wenn gezeigt werden konnte, dass die Abräumung eines pathogenen Proteins auch dann erfolgreich ist, wenn keine Genmutation vorliegt. „Die Ergebnisse dieser Studie müssen noch in einer größeren Phase-3-Studie überprüft und reproduziert werden, die wir mit Spannung erwarten.“

    Wie sind diese therapeutischen Entwicklungen insgesamt zu bewerten?

    „Insgesamt sind all diese Therapieergebnisse aus wissenschaftlicher Sicht und auch für uns Ärztinnen und Ärzte extrem beeindruckend. Wir haben Betroffene mit einer genetischen ALS gesehen, die mit der Therapie eine deutliche Verbesserung von Symptomen erfahren haben“, erläutert Prof. Meyer, Leiter der ALS-Ambulanz der Charité, die über sehr umfangreiche Erfahrung mit der ASO-Therapie verfügt. Wie der Experte weiter ausführt, steht hinter diesen per se schon spektakulären Therapieerfolgen eine weitere, über die ALS hinausgehende wichtige Erkenntnis: „Wir haben gesehen, dass die funktionellen Einschränkungen reversibel waren. Das bedeutet, dass der Funktionsverlust höher war und hingegen weniger unumkehrbarer Strukturverlust durch beschädigte Nervenfasern stattgefunden hatte. Das ist etwas, das Zuversicht gibt, und zwar für alle neurodegenerativen Erkrankungen. Kurz: Es scheint deutlich mehr an Funktion rettbar zu sein, als wir bislang allgemein angenommen haben.“

    Die Forschung geht weiter, neue biologische ALS-Klassifikation erlaubt verbesserte Studiendesigns

    Damit weitere zielgerichtete Therapien entwickelt und valide klinisch geprüft werden können, haben deutsche Expertinnen und Experten die ALS nach biologischen Kriterien systematisiert und klassifiziert. Diese Klassifikation wurde international publiziert [4] und sei, so Meyer, als das neue „Betriebssystem der ALS-Forschung“ zu verstehen. Anhand dessen könnten zielgerichtete Therapien entwickelt und auch zukünftige Studiendesigns passgenauer zugeschnitten werden. „Die Erkrankung umfasst zahlreiche Subtypen, weshalb es nicht zielführend ist, eine Therapie an ‚der ALS‘ zu testen. Stattdessen ist eine differenzierte Betrachtung vielversprechend, denn oft ist es so, dass ein Medikament bei der einen Erkrankungsform wirkt, bei einer anderen aber nicht.“ Angesichts all dieser aktuellen Meilensteine und Forschungserfolge ist der Wissenschaftler optimistisch, dass ALS in Zukunft heilbar ist und dieses Ziel am Horizont erkennbar wird.

    [1] Meyer T, Schumann P, Weydt P et al. Clinical and patient-reported outcomes and neurofilament response during tofersen treatment in SOD1-related ALS-A multicenter observational study over 18 months. Muscle Nerve. 2024 Sep;70(3):333-345.
    [2] Shneider NA, Harms MB, Korobeynikov VA e al. Antisense oligonucleotide jacifusen for FUS-ALS: an investigator-initiated, multicentre, open-label case series. Lancet. 2025 May 22:S0140-6736(25)00513-6.
    [3] https://www.neurimmune.com/news/al-s-pharma-announces-positive-topline-results-f...
    [4] Meyer T, Boentert M, Großkreutz J et al. Motor phenotypes of amyotrophic lateral sclerosis – a three-determinant anatomical classification based on the region of onset, propagation of motor symptoms, and the degree of upper and lower motor neuron dysfunction. Neurol Res Pract. 2025 Apr 28;7(1):27.

    Pressekontakt
    Pressestelle der Deutschen Gesellschaft für Neurologie
    Pressesprecher: Prof. Dr. Peter Berlit
    Leiterin der DGN-Pressestelle: Dr. Bettina Albers
    Tel.: +49(0)174 2165629
    E-Mail: presse@dgn.org

    Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V. (DGN)
    sieht sich als medizinisch-wissenschaftliche Fachgesellschaft in der gesellschaftlichen Verantwortung, mit ihren über 13.000 Mitgliedern die neurologische Krankenversorgung in Deutschland zu sichern und zu verbessern. Dafür fördert die DGN Wissenschaft und Forschung sowie Lehre, Fort- und Weiterbildung in der Neurologie. Sie beteiligt sich an der gesundheitspolitischen Diskussion. Die DGN wurde im Jahr 1907 in Dresden gegründet. Sitz der Geschäftsstelle ist Berlin. www.dgn.org

    Präsidentin: Prof. Dr. Daniela Berg
    Stellvertretender Präsident: Prof. Dr. Dr. Sven Meuth
    Past-Präsident: Prof. Dr. Lars Timmermann
    Generalsekretär: Prof. Dr. Peter Berlit
    Geschäftsführer: David Friedrich-Schmidt
    Geschäftsstelle: Budapester Str. 7/9, 10787 Berlin, Tel.: +49 (0)30 531437930, E-Mail: info@dgn.org


    Weitere Informationen:

    https://www.dgn.org/dgn-kongress


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten
    Medizin
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    Deutsch


     

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