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27.11.2025 11:09

Wie ein Gen die Architektur des menschlichen Gehirns formt

Torsten Lauer Referat Kommunikation und Medien
Zentralinstitut für Seelische Gesundheit

    Wie das menschliche Gehirn seine außergewöhnliche Komplexität erlangt, beschäftigt Forschende weltweit. Ein Team am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim und am Deutschen Primatenzentrum – Leibniz-Institut für Primatenforschung in Göttingen hat nun mit Hilfe von Organoiden aufgezeigt, dass das Gen ARHGAP11A entscheidend an der Gehirnentwicklung beteiligt ist. Fehlt das Gen, geraten zentrale Prozesse der Zellteilung und -struktur aus dem Gleichgewicht.

    Das menschliche Gehirn unterscheidet uns wie kein anderes Organ von anderen Lebewesen. Es ermöglicht Sprache, abstraktes Denken, komplexes Sozialverhalten und Kultur. Doch wie kann sich dieses außergewöhnlich leistungsfähige Organ entwickeln und wie wird sichergestellt, dass sich Nerven- und Stützzellen an genau den richtigen Stellen bilden, um die Komplexität des menschlichen Gehirns auszubilden? Ein Team um Dr. Julia Ladewig am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI) in Mannheim und Dr. Michael Heide am Deutschen Primatenzentrum (DPZ) in Göttingen ist dieser Frage auf molekularer Ebene nachgegangen. In der jetzt in der Fachzeitschrift Cell Reports veröffentlichten Studie zeigen die Forschenden, dass das Gen ARHGAP11A eine Schlüsselrolle bei der Organisation der Gehirnentwicklung spielt.

    Ordnung im Stammzelllager: Forschende entdecken zentrale Rolle von ARHGAP11A

    Im sich entwickelnden Gehirn liegt tief im Inneren die sogenannte Ventrikelzone. Sie kann als Stammzelllager bezeichnet werden, da dort spezialisierte Stammzellen immer wieder neue Nervenzellen hervorbringen. Damit diese Zellen wissen, wie sie sich teilen, wohin sie wandern und wann sie sich zu Nervenzellen entwickeln sollen, müssen sie ihr inneres Gerüst, das Zellskelett, ständig umbauen. Die Forschenden haben nun herausgefunden, dass das Gen ARHGAP11A diese Prozesse wesentlich steuert. Es sorgt dafür, dass die Stammzellen während der Zellteilung ihre Orientierung behalten und die Architektur der Ventrikelzone stabil bleibt.

    Wenn Orientierung verloren geht

    Fehlt ARHGAP11A, verlieren die Stammzellen ihre Ordnung, lösen sich zu früh aus dem Gewebe und beginnen sich in Nervenzellen umzuwandeln. Das führt dazu, dass das Stammzellreservoir zu schnell aufgebraucht wird. In der Folge fehlen später wichtige Zelltypen, etwa Stützzellen, die für die Reifung und Stabilität des Gehirns unverzichtbar sind.

    Das ARHGAP11A-Protein wirkt dabei wie ein molekularer Schalter. Es reguliert sogenannte Rho-GTPasen, kleine Moleküle, die das Zellskelett kontrollieren und damit bestimmen, wie sich Zellen formen, teilen und bewegen. Dadurch kann ARHGAP11A sicherstellen, dass die Vorläuferzellen ihre Form behalten und sich korrekt in der Ventrikelzone anordnen.

    Gehirn-Organoide liefern entscheidende Einblicke

    Um diese Mechanismen im Detail zu erforschen, nutzten die Forschenden sogenannte Gehirn-Organoide, also im Labor aus Stammzellen gezüchtete Modelle des menschlichen Großhirns. Damit konnten sie nachvollziehen, wie ARHGAP11A die Zellarchitektur formt und wie eine Störung dieses Mechanismus Fehlentwicklungen verursacht.

    Bemerkenswerterweise konnten die Forschenden auf diese Weise zeigen, dass eine kurzfristige pharmakologische Hemmung der überaktiven Signalwege die Fehlentwicklung teilweise rückgängig macht. „Das zeigt, dass sich dieser Entwicklungsprozess des Gehirns prinzipiell beeinflussen lässt“, erklärt Erstautor Yannick Hass, Mitarbeiter am Hector Institut für Translationale Hirnforschung (HITBR) sowie am ZI in Mannheim.

    Unerreichte Präzision durch Gehirn-Organoide

    Die Studie verdeutlicht, dass Mausmodelle die Komplexität der menschlichen Gehirnentwicklung nicht vollständig abbilden können. „In Mausgewebe ließen sich die gleichen Effekte nach dem Verlust von ARHGAP11A nicht nachweisen. Das unterstreicht, wie wichtig menschliche Organoid-Modelle für die biomedizinische Forschung geworden sind“, sagt Dr. Michal Heide, Leiter der Arbeitsgruppe Gehirnentwicklung und -evolution am Deutschen Primatenzentrum.

    Auch Dr. Julia Ladewig, Leiterin der Arbeitsgruppe für entwicklungs-assoziierte Erkrankungen des Gehirns am ZI, betont die Bedeutung des Ansatzes: „Gehirn-Organoide eröffnen uns die Möglichkeit, die Entwicklung des menschlichen Gehirns in bisher unerreichter Präzision zu untersuchen. Damit können wir sowohl seine evolutionären Besonderheiten besser verstehen als auch neue Einblicke in Entwicklungsstörungen und psychiatrische Erkrankungen gewinnen.“

    Neue Diagnose- und Therapieansätze ermöglichen

    Langfristig soll die Forschung helfen, genetische Risikofaktoren für neuroentwicklungsbedingte Erkrankungen besser zu verstehen. Dazu gehören etwa Mikrozephalie, bei der das Gehirn ungewöhnlich klein bleibt, oder neuronale Heterotopien, bei denen Nervenzellen während der Gehirnentwicklung an falsche Stellen wandern. Das gewonnene Wissen kann die Grundlage für neue Diagnose- und Therapieansätze schaffen und so langfristig zur Verbesserung der Behandlung solcher seltenen Erkrankungen beitragen.

    Über das ZI
    Das Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI) steht für international herausragende Forschung und wegweisende Behandlungskonzepte in Psychiatrie und Psychotherapie, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Suchtmedizin. Die Kliniken des ZI gewährleisten die psychiatrische Versorgung der Mannheimer Bevölkerung. Psychisch kranke Menschen aller Altersstufen können am ZI auf fortschrittlichste, auf internationalem Wissensstand basierende Behandlungen vertrauen. Über psychische Erkrankungen aufzuklären, Verständnis für Betroffene zu schaffen und die Prävention zu stärken ist ein weiterer wichtiger Teil unserer Arbeit. In der psychiatrischen Forschung zählt das ZI zu den führenden Einrichtungen Europas und ist ein Standort des Deutschen Zentrums für Psychische Gesundheit (dzpg.org). Das ZI ist institutionell mit der Universität Heidelberg über gemeinsam berufene Professorinnen und Professoren der Medizinischen Fakultät Mannheim verbunden und Mitglied der Health + Life Science Alliance Heidelberg Mannheim (health-life-sciences.de).

    Über das HITBR
    Das Hector Institut für Translationale Hirnforschung (HITBR) wurde als ein gemeinschaftliches Projekt des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit (ZI), des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ) und der Hector Stiftung II gegründet. Ziel des HITBR ist die Identifizierung neuer molekularer und funktioneller Ansatzpunkte für die Therapie schwerer psychiatrischer Erkrankungen sowie von Gehirntumoren.

    Über das Deutsche Primatenzentrum
    Die Deutsches Primatenzentrum GmbH (DPZ) – Leibniz-Institut für Primatenforschung betreibt biologische und biomedizinische Forschung über und mit Primaten auf den Gebieten der Infektionsforschung, der Neurowissenschaften und der Primatenbiologie. Das DPZ unterhält außerdem Freilandstationen in den Tropen und ist Referenz- und Servicezentrum für alle Belange der Primatenforschung. Das DPZ ist eine der 96 Forschungs- und Infrastruktureinrichtungen der Leibniz-Gemeinschaft.


    Wissenschaftliche Ansprechpartner:

    Dr. Julia Ladewig
    Hector Institut für Translationale Hirnforschung (HITBR)
    Zentralinstitut für Seelische Gesundheit
    E-Mail: julia.ladewig@zi-mannheim.de

    Dr. Michael Heide
    Deutsches Primatenzentrum – Leibniz-Institut für Primatenforschung
    Nachwuchsgruppe Gehirnentwicklung und -Evolution
    Tel.: +49 551-3851-323
    E-Mail: mheide@dpz.eu


    Originalpublikation:

    Hass, Y, Kniep, J, Hoffrichter, A, Marsoner, F, Eşiyok, N, Gasparotto, M, Pio Loco detto Gava, M, Artioli, A, Guida, C, Meuth, S G, Huttner, W B, Jabali, A, Heide, M and Ladewig, J (2025): ARHGAP11A Maintains Cortical Progenitor Identity Through RHOA–ROCK Signalling During Human Brain Development. Cell Reports, Volume 44, Issue 12, 116599, https://www.cell.com/cell-reports/fulltext/S2211-1247(25)01371-3


    Weitere Informationen:

    https://medien.dpz.eu/pinaccess/showpin.do?pinCode=v1D7e0q5a2k4 Unter diesem Link finden Sie druckfähige Bilder


    Bilder

    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten
    Biologie, Medizin
    überregional
    Forschungsergebnisse
    Deutsch


     

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