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Wissenschaft
Vom IMK geförderte neue Studie kategorisiert Leistungen
Krankenkassen zahlen bis zu einem knappen Fünftel ihres Geldes für versicherungsfremde Leistungen – mehr Steuerfinanzierung nötig
Knapp 58 Milliarden Euro zahlen die Krankenkassen der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) im Jahr für Leistungen, die vollständig oder anteilig versicherungsfremd sind. Das ergibt eine neue Studie des Berliner IGES Instituts, die das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung gefördert hat.*
Damit flossen 2024 rund 18 Prozent der GKV-Gesamtausgaben in Aufgaben, die einen hohen gesellschaftlichen Nutzen stiften, von dem aber nicht nur die Beitragszahlenden profitieren, und der daher breiter finanziert werden sollte. Das geschieht bislang nur zu einem relativ geringen Anteil. Denn den 58 Milliarden Euro Ausgaben stehen so genannte Bundeszuschüsse aus Steuermitteln von lediglich 14,5 Milliarden Euro an die GKV gegenüber.
Als versicherungsfremd werden solche Leistungen bezeichnet, die zwar aus GKV-Beiträgen finanziert werden, aber gesamtgesellschaftlichen Zielen zu Gute kommen und nicht oder nur zum Teil direkt in die Gesundheitsversorgung der GKV-Versicherten gehen. Das gilt beispielsweise für die beitragsfreie Mitversicherung von nicht-erwerbstätigen Ehepartner*innen und von Kindern in der GKV, für die indirekte Finanzierung von Krankenhausinvestitionen oder für Beiträge für Bezieher*innen von Grundsicherung, die grundsätzlich vom Bund bezahlt werden, aber bislang ebenfalls nicht kostendeckend. Von Fachleuten diskutiert wird auch, inwiefern beispielsweise von den Kassen bezahlte Schutzimpfungen zumindest teilweise zu den versicherungsfremden Leistungen zählen. Schließlich kommt ihre krankheitsvermeidende Wirkung nicht nur der Gemeinschaft der GKV-Versicherten zugute, sondern wirkt auch darüber hinaus. Die Gesundheitsforscher des IGES sprechen von „Kollektivguteigenschaften“. Die Einstufung einer Leistung als „versicherungsfremd“ sagt dabei nichts darüber aus, ob diese Leistung Teil der gesetzlichen Versicherung sein sollte oder nicht.
„Wichtige gesamtgesellschaftliche Aufgaben zu stemmen, ist eine Stärke, die die solidarische GKV von privatwirtschaftlichen Versicherungsunternehmen unterscheidet“, sagt Prof. Dr. Sebastian Dullien, der wissenschaftliche Direktor des IMK. „Grundsätzlich sind Leistungen wie die Familienversicherung dort auch gut und richtig angesiedelt. Aber die Kassen und ihre Versicherten dürfen nicht auf den Kosten dieser gesamtgesellschaftlichen Aufgaben sitzen bleiben.“
Eine allgemeingültige oder gar gesetzliche Definition von versicherungsfremden Leistungen gibt es bislang nicht. Das Expertenteam von Dr. Martin Albrecht, Geschäftsführer des IGES Instituts, klopft in der IMK-geförderten Studie deshalb zahlreiche Leistungen ausführlich darauf ab, in welchem Maße sie als versicherungsfremd anzusehen sind.
Insgesamt identifiziert das IGES neun Leistungen mit einem jährlichen Gesamtvolumen von knapp 22 Milliarden Euro, deren Einstufung als vollständig versicherungsfremd begründbar sei. Der größte Posten ist die beitragsfreie Mitversicherung von Ehepartner*innen (siehe auch Tabelle 1 in der pdf-Version dieser PM; Link unten). Weitere acht Leistungen im Gesamtumfang von knapp 36 Milliarden Euro stufen die Forscher als „teilweise begründbar“ versicherungsfremd ein. Diese sollten daher allenfalls nur anteilig aus den Versichertenbeiträgen an die GKV bezahlt werden. Darunter sind 24 Milliarden Euro, die in die beitragsfreie Mitversicherung von Kindern fließen (Tabelle 2 in der pdf-Version).
Bei weiteren elf Leistungen, die von manchen Fachleuten ebenfalls als versicherungsfremd bezeichnet werden, hält das IGES eine entsprechende Einstufung hingegen für „kaum begründbar“. Dazu zählen etwa Ausgaben für die Hospiz- und Palliativversorgung. Denn der direkte Nutzen als Gesundheitsleistung für die Versicherten überwiege den gesamtgesellschaftlichen bei Weitem (Tabelle 3 in der pdf-Version). Allerdings umfasst diese Gruppe lediglich ein deutlich geringeres Ausgabenvolumen von insgesamt rund 6,5 Milliarden Euro.
„Die Studie macht deutlich, dass es nicht einfach, aber durchaus möglich ist, versicherungsfremde Leistungen in der GKV plausibel abzugrenzen. Klar wird auch, dass die große Mehrheit der versicherungsfremden Ausgaben keineswegs überflüssig ist, sondern einen großen gesamtgesellschaftlichen Nutzen stiftet. Allerdings wird dieser Nutzen derzeit zu stark über Beiträge finanziert“, betont Dr. Katja Rietzler, Expertin des IMK für Fiskalpolitik.
„Die Studienergebnisse zeigen, dass die versicherungsfremden, aber gesamtgesellschaftlich sinnvollen Ausgaben der GKV um ein Mehrfaches höher sind als der Zuschuss, den der Bund aktuell zum Ausgleich zahlt. Ein höherer Bundeszuschuss aus Steuermitteln wäre also nur fair und ein sinnvoller Beitrag, um die Finanzierungslücke der GKV zu reduzieren“, ordnet IMK-Direktor Sebastian Dullien die Ergebnisse ein.
Gleichzeitig sei es nötig, Reformvorschläge zu verfolgen, die das Gesundheitssystem effizienter machen, indem die Qualität von medizinischen Leistungen verbessert oder Doppeluntersuchungen vermieden werden. Eine konsequente Digitalisierung sei ebenfalls wichtig, betont Dullien. Denn in einer anderen Studie hatten Dullien und Rietzler kürzlich gezeigt, dass die Gesamtausgaben für soziale Sicherung in Deutschland nicht auffällig groß und in den vergangenen zwei Jahrzehnten auch nicht auffällig gestiegen sind.** Gemessen an der gesamtwirtschaftlich relevanten Größe, der Wirtschaftsleistung, blieben die Ausgaben in zentralen Bereichen wie Grundsicherung, Rente oder Arbeitslosenversicherung sogar unverändert bzw. waren etwas niedriger als vor 15 oder vor 20 Jahren.
Wirklich problematisch war nach der Analyse des IMK die Kostenentwicklung aber in einem Bereich: dem Gesundheitssystem. „Wenn es Reformbedarf in den sozialen Sicherungssystemen in Deutschland gibt, dann am ehesten bei der Krankenversicherung“, sagt Dullien. „Und das betrifft sowohl die Einnahmen- als auch die Ausgabenseite.“ Rufe nach mehr „Eigenverantwortung“ von Patient*innen gingen dabei in die falsche Richtung. So bewerten Dullien und Rietzler unter diesem Motto vorgebrachte Vorschläge wie etwa Gebühren für Arztbesuche als nicht sinnvoll. Sie brächten die Gefahr mit sich, dass insbesondere Menschen mit geringen Einkommen trotz medizinischer Notwendigkeit nicht oder verspätet ärztliche Hilfe suchen, was die Krankheitskosten am Ende sogar erhöhen könne. Auch die Idee von Karenztagen bei der Lohnfortzahlung berge relevante Risiken, weil möglicherweise kranke Menschen trotzdem zur Arbeit gehen und Kolleg*innen oder Kund*innen infizieren könnten.
Dr. Katja Rietzler
IMK-Expertin für Fiskalpolitik
Tel.: 0211-7778-576
E-Mail: Katja-Rietzler@boeckler.de
Prof. Dr. Sebastian Dullien
Wissenschaftlicher Direktor IMK
Tel.: 0211-7778-331
E-Mail: Sebastian-Dullien@boeckler.de
Rainer Jung
Leiter Pressestelle
Tel.: 0211-7778-150
E-Mail: Rainer-Jung@boeckler.de
*Martin Albrecht, Richard Ochmann: Versicherungsfremde Leistungen in der GKV. IMK Study Nr. 102, Dezember 2025. Download: https://www.boeckler.de/de/faust-detail.htm?produkt=HBS-009287
Die PM mit Tabellen (pdf): https://www.boeckler.de/data/pm_imk_2025_12_04.pdf
**Sebastian Dullien, Katja Rietzler: Sozialstaatsdebatte krankt an mangelnder Analyse und Fokus auf Scheinprobleme. IMK Kommentar Nr. 16, Oktober 2025. Download: https://www.boeckler.de/de/faust-detail.htm?produkt=HBS-009246
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Gesellschaft, Politik, Wirtschaft
überregional
Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch

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