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23.07.2002 15:51

Reformpädagogische Organisationen rufen zur Neugestaltung der Schulen auf

Monika Roegge Pressestelle Standort Essen
Universität Essen (bis 31.12.2002)

    Die Veröffentlichung der PISA-Studie und der Anschlag in einem Erfurter Gymnasium haben eine seit langem überfällige Diskussion um Schulstruktur, Lernkultur und Schullebengestaltung in der Bundesrepublik Deutschland ausgelöst. Professor Dr. Tassilo Knauf, Erziehungswissenschaftler an der Universität Essen, skizziert in dem Aufruf "Reformpädagogische Erfahrungen nutzen, um Schule neu zu denken und neu zu gestalten" stellvertretend für reformpädagogische Organisationen und Schulprojekte die Qualitätsmaßstäbe für eine Schulreform, die sich am Leitbild einer humanen Leistungsschule orientiert. Gefordert wird unter anderem, dass Kinder möglichst lange gemeinsam lernen, dass Lehrkräfte nicht primär belehren, sondern Lernherausforderungen bieten, und dass Lernen in ein aktivierendes, zugleich Wohlbefinden schaffendes Schulleben eingebettet wird.

    Hinweis für die Redaktion: Der Text von Professor Knauf ist dieser Presseinformation im Wortlaut beigefügt.

    Redaktion: Daniela Endrulat, Telefon (02 01) 1 83 - 45 18
    Weitere Informationen: Professor Dr. Tassilo Knauf, Telefon 1 83 - 22 47

    Nach der PISA-Studie:
    Reformpädagogische Erfahrungen nutzen, um Schule neu zu denken und neu zu gestalten

    Die PISA-Studie beunruhigt nach wie vor die deutsche Öffentlichkeit. In ihr wurden Leseverständnis, mathematisches und naturwissenschaftliches Verständnis der 15-Jährigen in 32 Industriegesellschaften untersucht. Dabei ging es weniger um das Testen fachlichen Wissens als um die Ermittlung von Fähigkeiten des Problemverstehens, Problemlösens und Zurechtfindens in einer komplexen Welt. In dieser internationalen Schulstudie, die als anspruchsvollste aller bisher durchgeführten Vergleichsuntersuchungen im Bildungsbereich gilt, errangen deutsche Schülerinnen und Schüler lediglich den 20. bzw. 21. der 31 vergebenen Plätze.

    Die Fixierung auf nationale Daten führt zu einer Aufgeregtheit, die vor dem Hintergrund des europäischen Einigungsprozesses sicher unangemessen ist. Dennoch fordern die Ergebnisse von PISA zur Suche nach möglichen Ursachen des schlechten Abschneidens deutscher SchülerInnen und nach Wegen zu einer qualitativen Weiterentwicklung des Bildungssystems heraus. Die PISA-Studie ist vor Fehlinterpretationen und falschen Schlussfolgerungen allerdings nicht gefeit. Eine solche wäre die Verstärkung von Zentralisierung und Standardisierung im Schulwesen, die keine Spielräume mehr lässt für eine Didaktik der Vielfalt, für die Selbstständigkeit der Schule, für pädagogische Phantasie und persönliche Ausstrahlung der einzelnen Lehrkraft und insbesondere für die Unverwechselbarkeit der Begabungen, Lernbedürfnisse und Lernstrategien des einzelnen Kindes.

    Vorurteilslos und mit Bedacht muss daher der Frage nachgegangen werden: Wo liegen konkret die Ursachen unbefriedigender Schülerleistungen
    * innerhalb der Struktur des Schulsystems
    * innerhalb der Gestaltung des Schulalltags
    * innerhalb der Organisation von Lernprozessen
    * innerhalb der Lehrerausbildung?

    Die Auseinandersetzung mit Mängeln des Bildungssystems ist nicht neu. Seit einem Jahrhundert versuchen ErziehungswissenschaftlerInnen, LehrerInnen, ErzieherInnen, SchulleiterInnen, BildungsberaterInnen u.a., die sich in Theorie und Praxis der Reformpädagogischen Bewegung verbunden sehen, Antworten auf folgende Fragen zu finden:

    - Wie können alle Kinder trotz der Verschiedenheit von Lernvoraussetzungen mit Freude, Erfolg und Nachhaltigkeit gemeinsam lernen?
    - Wie müssen Bildungseinrichtungen strukturiert sein, um die Vielfalt von Begabungen und Lerninteressen herauszufordern und ihre Entwicklung zu unterstützen?
    - Was sollen Kinder lernen, um sich als selbstständige Persönlichkeiten zu entfalten und um das Leben in der Gemeinschaft sinnvoll mit zu gestalten?
    - Wie müssen LehrerInnen qualifiziert sein und wie können sie eine professionelle Rolle beim Begleiten von Lernprozessen, beim Beraten und Rückmeldung Geben wahrnehmen, um für alle Kinder Lernen erfolgreich zu machen?

    Antworten auf diese Fragen konkretisieren sich in pädagogischer Forschung, in lern- und bildungstheoretischen Konzepten, vor allem aber in zahlreichen Schul- sowie elementarpädagogischen Projekten im Rahmen der Reformpädagogischen Bewegung. Reformpädagogische Kindergärten und Schulen bilden seit Jahrzehnten ein internationales Netzwerk, das die engen Grenzen nationaler Bildungssysteme überwunden hat. Sie stellen in vielen Ländern die erfolgreichsten Bildungseinrichtungen dar, unabhängig davon, ob sie sich in öffentlicher oder freier Trägerschaft befinden. Sie fördern besondere Begabungen ebenso wie die Chancengleichheit für Heranwachsende mit Lernproblemen.

    Dies gelingt
    * weil Kinder möglichst lange gemeinsam lernen und damit auch voneinander lernen können, Vorbilder erhalten und Wertmaßstäbe vor Augen haben,
    * weil Lernen als Selbstlernen verstanden und praktiziert wird, als Eigentätigkeit, als Handeln aus eigenem Antrieb, auf Grund eigener Erfahrungen mit Erfolgen wie mit Fehlern und unter Nutzung eigener Strategien,
    * weil Lehrkräfte nicht primär belehren, sondern Herausforderungen anbieten, zugleich Sicherheit vermitteln, jedes Kind in seiner Unverwechselbarkeit achten und ihm das an Unterstützung geben, was es braucht,
    * weil Lernen eingebettet ist in ein Schulleben, das aktiviert, Identifikationen und Wohlbefinden schafft, das eine kinder- und lernfreundliche Lernumgebung ebenso einschließt wie eine Rhythmisierung der Zeit mit Anspannung und Entspannung, Bewegung und Stille, Gespräch, spielerischen und festlichen Aktivitäten,
    * weil Bildungseinrichtungen sich in Lerninhalte und Aktionsmöglichkeiten öffnen zur Schulnachbarschaft und zum Alltagsleben, um Heranwachsenden Erfahrungsbrücken zur Natur, Kultur, zur technischen und sozialen Welt zu vermitteln.

    Die Erfahrungen und Erfolge der reformpädagogischen Projekte sind keine Betriebsgeheimnisse. Sie sind offen, entwickeln sich weiter und bilden Teile unseres kulturellen Erbes. Sich an ihnen zu orientieren, um das deutsche Bildungssystem weiterzuentwickeln, kann die erfolgreichste Bildungsinvestition in die Zukunft sein. Die unterzeichnenden Organisationen, Institutionen und Projekte bieten an, ihre konkreten Erfahrungen in den Prozess der strukturellen Weiterentwicklung des Lernens und Lebens in deutschen Bildungseinrichtungen einzubringen.

    - Aktion Humane Schule e.V.
    - Vereinigung der deutschen Landerziehungsheime e.V.
    - Bundesverband der Montessorischulen e.V.
    - Adolf-Reichwein-Schule Nürnberg
    - Christliches Jugenddorfwerk Deutschlands e.V.
    - Laborschule Bielefeld
    - Comed e.V. - Verein zur Förderung der Community Education in der Bundesrepublik Deutschland
    - Nachbarschaftsschule Leipzig
    - Gesellschaft für Jenaplan-Pädagogik Deutschland e.V.
    - Dialog Reggio - Vereinigung zur Förderung der Reggio-Pädagogik in Deutschland e.V.


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    fachunabhängig
    überregional
    Studium und Lehre, Wissenschaftspolitik
    Deutsch


     

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