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Was ist Güsel, was ein Bartwisch und wann steht man mit abgesägten Hosen da? Rund 12 000 national wie regional geprägte Wörter und Wendungen der Standardsprache umfasst das neu erschienene "Variantenwörterbuch des Deutschen". Linguistikprofessor Ulrich Ammon, Uni Duisburg-Essen, und seine Mitarbeiter Dr. Michael Schloßmacher und Birte Kellermeier-Rehbein haben das einmalige, mitunter amüsante Nachschlagewerk zusammen mit Forscherteams aus Basel und Innsbruck erarbeitet.
Rahm, Obers, Nidel - nicht überall im deutschsprachigen Raum steht Sahne drauf, wo Sahne drin ist. In Österreich, der Schweiz, in Liechtenstein, Luxemburg, Ostbelgien, Südtirol und natürlich in Deutschland spricht man zwar die gleiche Sprache. Sagen und verstehen tut man dennoch nicht immer dasselbe, selbst im eigenen Land nicht.
Einen Bartwisch etwa kennt man fast überall in Österreich, nicht aber die Handeule. So heißt nämlich in Norddeutschland der Handwischer. Das wiederum ist in der Schweiz gebräuchlich für "kleiner Besen mit feinen, rechtwinklig zum kurzen Griff abstehenden Borsten", erklärt der Eintrag im Variantenwörterbuch. Damit nicht genug, heißt das Putzutensil in Teilen Deutschlands mal Beserl, mal Kehrwisch, mal Handfeger oder Kehrbesen.
An die 50 000 solcher national oder regional geprägten Ausdrücke umfasst schätzungsweise die deutsche Standardsprache. Nur ein Viertel - so befanden die beteiligten Wissenschaftler - gehört zum öffentlich gebräuchlichen Wortschatz und wurde daher für das Wörterbuch berücksichtigt. Außen vor blieben die Fach- und Verwaltungssprache, Dialekte, Veraltetes, selten Verwendetes und Umgangssprachliches.
Das 1 000 Seiten starke Werk ist mit beträchtlichem Aufwand und in gerade einmal sechs Jahren Forschungsarbeit entstanden. "Das ist für ein Wörterbuch eine recht kurze Zeit", sagt Professor Dr. Ulrich Ammon vom Institut für Germanistik am Campus Duisburg. Er ist einer der renommiertesten Wissenschaftler auf dem Gebiet der Soziolinguistik und neueren Geschichte der deutschen Sprache. Das Gemeinschaftsprojekt "Variantenwörterbuch" der Universitäten Duisburg-Essen, Innsbruck und Basel geht auf seine Initiative zurück. Frühere Forschungsergebnisse Ammons, so sein 1995 erschienenes Buch "Die deutsche Sprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz", schafften die Basis für das neue, einmalige Nachschlagewerk.
Weltweit einmalig: das Variantenwörterbuch
Für die Linguistik wie Lexikographie ist das Variantenwörterbuch umso bedeutsamer, als es nichts Vergleichbares für eine andere Sprache gibt. Es dürfte somit Vorreiterfunktion haben etwa für das Englische, Französische, Spanische oder Portugiesische, die wie Deutsch als plurizentrische Sprachen gelten. "Als solche", so Ammon, "bezeichnet man Sprachen, die in mehr als einem Land als nationale oder regionale Amtssprache in Gebrauch sind und dabei standardsprachliche Unterschiede herausgebildet haben."
Den deutschen Variantenwortschatz erarbeiteten die drei Forschergruppen durch intensive Quellenauswertung: Sie durchforsteten Zeitungen, Zeitschriften, Magazine, populärwissenschaftliche Sachbücher, gehobene und Trivialromane, Krimis, Kinder- und Jugendbücher, Prosatexte, Broschüren, Werbematerialen, Formulare, Gesetzestexte, mündliche Quellen und natürlich das Internet. Was einem fremd oder unbekannt vorkam, ging an die Kollegen der anderen Forscherteams. Man prüfte, ordnete Bedeutungen zu, um den Alltagskernwortschatz unter den Varianten auszumachen. Die Baseler Wissenschaftler entwickelten sogar ein Programm, um deutschsprachige Webseiten absuchen und jedes in Frage kommende "fremde" Wort nach Häufigkeit auszählen zu können.
Ungefährlich: die "Schwedenbombe"
Als schwierig erwies sich mitunter die Trennung zwischen Standarddeutsch, Mundart und Umgangssprache. Im Wörterbuch sind Grenzfälle entsprechend gekennzeichnet. Die "Schwedenbombe" ist so einer. In Österreich isst man sie. Dagegen hat in der Schweiz und in Teilen Deutschlands die (Sch-)Leckerei etymologisch einen anderen Ursprung als in Österreich: Mohrenkopf und Negerkuss heißt sie da. Politisch korrekt, so sagt es das Variantenwörterbuch, ist natürlich der "Schokokuss".
Die Einträge sind systematisch aufbereitet und dargestellt. Geographische Verbreitung, Gebrauch, Herkunft, Grammatik und Orthografie sind dokumentiert. Es gibt Querverweise auf die gemeindeutschen, also im ganzen deutschen Sprachgebiet geltenden Entsprechungen und für jedes Stichwort auch ein Belegbeispiel.
"Für über 90 Prozent der aufgenommenen Wörter und Wendungen gibt es eine oder mehrere Varianten gleicher Bedeutung in den anderen Nationen oder Regionen des deutschen Sprachgebiets", sagt Ammon. Für manche gibt es dagegen keine Entsprechung, nur eine gemeindeutsche Übersetzung, etwa für die in der Schweiz gängige Wendung "in abgesägten Hosen dastehen" (bloßgestellt sein). Auch "Augenwasser" ist eine rein eidgenössische Sprachvariante für gemeindeutsch "Tränen". Und Häuschenpapier - wiederum Schweiz - ist nicht das, was in hiesigen Regionen damit assoziiert würde. Es ist Rechenpapier.
Ein und dasselbe Wort, mehrere Bedeutungen - auch das gibt es: Mit "Estrich" benennen Deutsche und Österreicher den fugenlosen Fußboden, Schweizer den Dachboden. Und ein für viele Ohren Haar sträubender Grammatikfehler ist gar keiner: Man darf nicht nur "ihn rufen" (Österreich; Norddeutschland), sondern auch "ihm" (Schweiz; Süddeutschland).
Das Einheitsdeutsch gibt es nicht
Das Einheitsdeutsch, das zeigt das Variantenwörterbuch deutlich, gibt es nicht, auch wenn lange Zeit nur als richtig galt, was im Duden steht. Nationale und regionale Unterschiede im Gebrauch von Wörtern und Wendungen sowie abweichende Grammatik und Orthografie wurden ignoriert. Das machte das Österreichische und Schweizerische zu einem Deutsch zweiter Klasse. Groß war deshalb das Interesse an diesem Projekt in beiden Ländern, und die finanzielle Förderung fiel deutlich höher aus als in Deutschland. Aber auch hier unterstützte die Deutsche Forschungsgemeinschaft die Duisburger Arbeiten mit fast 700 000 €.
Gedacht ist das Variantenwörterbuch für Germanisten, Deutschlernende und -lehrende, für Medien- oder Tourismusfachleute oder als Nachschlagewerk für Leser deutschsprachiger Literatur. Bei einem Preis von unter 30 € rechnet der Berliner Verlag de Gruyter mit einer breiten Nachfrage.
Manchen mag es als Kommunikationshilfe im Alltag dienen: Ein deutsches Computerunternehmen, das nach Österreich expandierte, soll für seine neuen Mitarbeiter als Begrüßungsgeschenk gleich einen ganzen Satz geordert haben. Auch Nutzer mit rein "folkloristischem Interesse" schließt Ammon nicht aus. Denn auch sie kommen auf ihre Kosten. Ein Eintrag unter "K": Der bundesdeutsche Korinthenkacker ist bei den österreichischen Nachbarn ein Tüpferlreiter und in der Schweiz ein Tüpflischeisser. Eine wirklich schöne Variante.
Kontakt: Prof. Dr. Ulrich Ammon, T. 0203/379-2410, ammon@uni-duisburg.de
http://www.degruyter.com/rs/bookSingle.cfm?isbn=3-11-016575-9
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Gesellschaft, Sprache / Literatur
überregional
Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch
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