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15.03.1999 08:33

Rentiere halten sich nicht an Regeln

Michael Seifert Hochschulkommunikation
Eberhard Karls Universität Tübingen

    Urgeschichte
    Urgeschichtler Dr. Jacobo Weinstock-Arenovitz hat die Auswirkungen des Klimas auf die Körpergröße von Rentieren während der Eiszeiten untersucht. Seine Knochenmessungen legen nahe, daß die Größe nicht - wie bisher von Zoologen angenommen - direkt vom Klima abhängt. Für seine Dissertation, die auch Einblicke in das Leben prähistorischer Menschen gibt, hat der Forscher kürzlich den Romina-Preis für Eiszeitforschung erhalten.

    Rentiere halten sich nicht an Regeln

    Eiszeitforscher bringt mit 10 000 alten Knochen Klima und Körpergröße in Zusammenhang

    Für seine Dissertation am Tübinger Institut für Ur- und Frühgeschichte und Archäologie des Mittelalters hat Dr. Jacobo Weinstock-Arenovitz 10 000 Knochen vermessen, um das Leben der eiszeitlichen Rentiere zu erforschen. Die Arbeit wurde kürzlich mit dem ersten Romina-Förderpreis für Eiszeitforschung der Reutlinger Firma Romina-Quellen Mineralbrunnen ausgezeichnet.

    "Es war bekannt, daß der Klimawechsel von kälteren und wärmeren Perioden im Jungpleistozän vor 130 000 bis 10 000 Jahren Einfluß auf die Körpergröße der Säugetiere hatte", sagt Weinstock-Arenovitz. Nach der in der Zoologie vielzitierten Bergmannschen Regel sollten größere Tiere einer Art in kälteren Gebieten oder Perioden häufiger vorkommen, weil sie durch ihr größeres Volumen mehr Wärme produzieren können als kleine. Bei steigendem Volumen wächst die Oberfläche nicht im gleichen Maß und die Tiere können sich wärmer halten. Läßt sich die Bergmannsche Regel auch auf eiszeitliche Rentiere anwenden?

    Im Jungpleistozän waren Rentiere über weite Teile von Europa verbreitet. Daher hat Weinstock-Arenovitz von Spanien bis nach Belgien Rentierknochen verschiedener Sammlungen vermessen. Als Standard diente ihm ein großer, 10 000 Jahre alter Fundort in Stellmoor bei Hamburg mit 20 000 Rentierknochen. "In einer Population gibt es immer kleine und große, dicke und dünne Tiere. Wenn man statistische Aussagen über die durchschnittliche Körpergröße unter verschiedenen Klimabedingungen machen will, muß eine Vielzahl von Knochen vermessen werden", erklärt Weinstock-Arenovitz. Die Daten zum Klima, in dem die Rentiere lebten, stammen zum Teil aus anderen Untersuchungen, aber auch die Knochen selbst können über damalige Temperaturen und Luftfeuchtigkeit einige Auskünfte geben. Dafür wird etwa ein Gramm Knochenmaterial entnommen und auf die Verteilung unterschiedlicher Sauerstoffisotope untersucht.

    Die Ergebnisse der Klimamessungen und die sorgfältigen Knochenuntersuchungen von Weinstock-Arenovitz stellen die Bergmannsche Regel in Frage: Die kleinsten Rentiere lebten vor 18 000 Jahren in einer kalten Eiszeitperiode. Zwar waren generell die Rentierkühe in Norddeutschland, Großbritannien und Belgien deutlich größer als in Süddeutschland, der Schweiz und Südfrankreich, bei den Bullen waren die Größenunterschiede jedoch nur gering. "Ich gehe davon aus, daß die Größenunterschiede der Tiere nicht direkte Anpassungen an die Temperatur sind wie in der Bergmannschen Regel, sondern daß das Klima indirekt Einfluß auf die Art und Menge der Nahrung nimmt", sagt Weinstock-Arenovitz. Nach der Jungenaufzucht wachsen die Rentierkühe auch heutzutage nur weiter, wenn die Nahrung üppig ist. Die Rentiere haben in den nördlichen Gebieten Europas im Jungpleistozän offenbar besseres Futter vorgefunden. Daß sich die Körpergrößen der Rentierbullen in Nord und Süd nur wenig unterschieden, hängt mit der Selektion über Konkurrenzkämpfe zusammen. "Die Bullen müssen sich im Kampf beweisen, große und schwere Tiere haben dabei Vorteile", erklärt der Urgeschichtswissenschaftler.

    Da die Knochenfunde aus dem Jungpleistozän vor allem aus Abfällen prähistorischer Menschen stammen, die Fleisch und Felle der Rentiere nutzten, konnte Weinstock-Arenovitz auch einige Details zur Geschichte der Menschen beitragen: "Bei Stellmoor haben die Nachfolger der Neandertaler vor 10 000 Jahren mit Pfeil und Bogen ganze Rentierherden bejagt. Sie haben ihre Beute nicht gezielt ausgesucht." Die Menschen lebten offenbar im Überfluß, denn sie schlugen die Knochen nicht auf, um ans Knochenmark zu kommen, und verarbeiteten nur die größeren Geweihe der Rentierbullen zu Werkzeugen. (3621 Zeichen)

    Alte Knochen schreiben Rentiergeschichte

    Forscher der Urgeschichte untersucht Auswirkungen des Klimas auf Säugetiere im Pleistozän

    Wer das Leben der Rentiere erforschen möchte, begibt sich mit Kamera und Notizblock nach Finnland oder Kanada. Schwieriger ist dies, wenn die Rentiere in der letzten Eiszeit lebten und vor 10 000 oder gar 100 000 Jahren gestorben sind. Dr. Jacobo Weinstock-Arenovitz vom Staatlichen Museum für Naturkunde in Stuttgart blieben zur Erforschung der eiszeitlichen Rentiere nur kistenweise alte Knochen. Für seine Dissertation am Institut für Ur- und Frühgeschichte und Archäologie des Mittelalters der Tübinger Universität hat der Archäozoologe kürzlich den ersten Romina-Förderpreis für Eiszeitforschung der Reutlinger Firma Romina-Quellen Mineralbrunnen erhalten.

    Etwa 10 000 Rentierknochen hat Weinstock-Arenovitz vermessen, um die Auswirkungen von Klimaveränderungen auf den Knochenbau von größeren Säugetieren im Jungpleistozän zu erforschen. Das Klima schwankte damals, 130 000 bis 10 000 Jahren vor der heutigen Zeit, zwischen Kalt- und Warmzeiten. Rentiere waren zu dieser Zeit über weite Teile von Europa verbreitet. "Die Rentiere im Jungpleistozän eignen sich besonders gut als Forschungsobjekte, weil sie von den prähistorischen Menschen gejagt wurden und an einzelnen Fundstellen zahlreiche Knochen als Abfälle zurückblieben", sagt Weinstock-Arenovitz. Daher lassen sich mit Untersuchungen an eiszeitlichen Rentieren auch Aussagen über die Geschichte unserer menschlichen Vorfahren treffen.

    Bis nach Spanien und Frankreich, England und in die Schweiz ist der Rentierforscher gereist, um die in Sammlungen und Museen vorhandenen Knochen aus unterschiedlichen Gebieten Europas zu untersuchen. An großen Fundstellen lagerten bis zu 1800 Rentierknochen. "Es ist wichtig, bei vielen Überresten von einem Ort Länge, Dicke und Tiefe zu messen, wenn man statistische Vergleiche über die durchschnittliche Körpergröße unter verschiedenen Bedingungen anstellen will. Denn in einer Population gibt es stets große und kleine, dicke und dünne Tiere", erläutert der Rentierforscher. Hinzu komme, daß bei den Rentieren Bullen und Kühe stark unterschiedlich groß sind, die männlichen Tiere sind auch in den heutigen Herden teilweise um die Hälfte schwerer als die weiblichen. Nicht jeder Knochen verrät, ob er zu einer Rentierkuh oder einem männlichen Jungtier gehörte.

    Als Standard für seine Messungen an Rentierknochen hat Weinstock-Arenovitz eine Fundstelle in Schleswig-Holstein gewählt, Stellmoor in der Nähe von Hamburg. Vor 10 000 Jahren gab es dort ein enges Tal, das mit dem Schmelzwasser von Gletschern gefüllt war. "Die Rentiere haben den See bei ihren Wanderungen durchquert und wurden von den prähistorischen Menschen gejagt", erzählt Weinstock-Arenovitz. 20 000 Rentierknochen blieben im See zurück und wurden in dem feuchten Boden über die Jahrtausende gut konserviert, so daß Weinstock-Arenovitz aus den Körpergrößen zahlreicher Rentiere einen Durchschnitt errechnen konnte. Diese "Standardrentiere" dienten ihm als Bezugsgrößen, um die Rentiere aus anderen Gebieten bei unterschiedlichem Klima zu vergleichen.

    "Die Klimadaten zu den verschiedenen Knochenfundstellen sind zum Teil aus anderen Untersuchungen bekannt, aber auch die Knochen selbst verraten einiges über das Klima", erklärt Weinstock-Arenovitz. Parallel zu seinen Messungen untersuchte daher die Urgeschichtlerin Dr. Elisabeth Stephan vom Institut für Mineralogie, Petrologie und Geochemie die Zusammensetzung der Rentierknochen, wofür ihr jeweils ein Gramm Knochenmaterial genügte. Die Verteilung unterschiedlich schwerer Sauerstoffatome im Knochen läßt Rückschlüsse auf die Umgebungstemperatur und Luftfeuchtigkeit zu Lebzeiten des Rentiers zu.

    Die Ergebnisse der Knochenmessungen klingen zunächst wenig spektakulär: "Die kleinsten Tiere lebten vor 18 000 Jahren in Südwestfrankreich in einer kalten Eiszeitperiode. Generell waren die Rentierkühe in Norddeutschland, Großbritannien und Belgien deutlich größer als in Süddeutschland, der Schweiz und Südfrankreich, bei den Bullen waren die Größenunterschiede zwischen Nord und Süd dagegen nur gering", faßt Weinstock-Arenovitz zusammen. Doch stellt dieses Ergebnis eine zentrale Regel der Zoologie in Frage, Bergmannsche Regel genannt. Nach herrschender Lehrmeinung sollten bei verwandten Tieren oder innerhalb einer Tierart größere Tiere in kälterem Klima begünstigt sein und dort häufiger vorkommen. Diese Regel baut auf der Überlegung auf, daß der Stoffwechsel und die Wärmeproduktion bei Tieren mit Zunahme der Körpergröße im Verhältnis zur Körperoberfläche viel stärker steigen. Da die Wärmeabgabe aber nur von der Körperoberfläche abhängt, haben größere Tiere in kaltem Klima Vorteile. Die Bergmannsche Regel läßt sich bei heutigen Arten an Pinguinen zeigen: Die metergroßen Kaiserpinguine kommen in der Antarktis vor, die mit 50 Zentimetern nur halb so großen Galapagos-Pinguine leben in der Nähe des Äquators.

    Welche Schlüsse zieht Weinstock-Arenovitz aus seinen Forschungsergebnissen? Der Wissenschaftler vermutet, daß die Größenunterschiede der Tiere nicht, wie in der Bergmannschen Regel angenommen, durch Anpassungen an die Temperatur zustande kommen, sondern daß das Klima nur indirekt Einfluß auf die Körpergröße der Tiere nimmt. "Mit unterschiedlichen Temperaturen und wechselnder Luftfeuchtigkeit ändert sich die Vegetation und daher auch die Art und Menge der Nahrung für die Rentiere, dies ist entscheidend für die Körpergröße", erklärt Weinstock-Arenovitz. Er zieht Vergleiche zu heute lebenden Rentieren, die vor allem im Sommer wachsen, wenn die Nahrung proteinreich ist. "Wenn bei heutigen Rentieren in Norwegen die Nahrung knapp wird, erreichen die Rentierkühe nur eine Mindestgröße und investieren die Energie dann in den Nachwuchs. Sie selbst wachsen nur weiter, wenn die Nahrung nach der Jungenaufzucht üppig ist", erklärt Weinstock-Arenovitz. Im Norden war das Nahrungsangebot im Jungpleistozän offenbar günstiger für Rentiere. Bullen und Kühe fressen prinzipiell das gleiche - vor allem Flechten. Doch müssen sich die Bullen bei Kämpfen untereinander beweisen, schwere und große Tiere haben dann Vorteile. Während die Körpergröße bei Rentierkühen keine große Rolle spielt, ist sie bei den Bullen durch die Selektion über Kämpfe entscheidend.

    Aber die alten Rentierknochen geben noch mehr her. Ganz nebenbei hat Weinstock-Arenovitz
    einiges über die Menschen zu dieser Zeit herausgefunden. "Bei den Knochenfunden in Stellmoor war die Verteilung von alten und jungen Rentieren, von Bullen und Kühen gleich wie in einer heutigen Herde", erläutert Weinstock-Arenovitz. Der Forscher zieht daraus den Schluß, daß die prähistorischen Menschen vor 10 000 Jahren, die Nachfolger der Neandertaler, bei der Jagd mit Pfeil und Bogen nicht selektiv vorgegangen sind: Alles was ihnen vor die Pfeile kam, wurde erlegt. "Die Menschen lebten bei Stellmoor im Überfluß, denn sie haben die Knochen nur selten aufgeschlagen, um an das Knochenmark zu kommen. Dagegen haben die Menschen auf der Schwäbischen Alb alles Eßbare verwertet", gibt Weinstock-Arenovitz Einblick in das Leben früherer Menschen. Ob die prähistorischen Menschen auf die Körpergröße ihrer Jagdbeute geachtet haben, ist nicht überliefert. Bei ihnen waren jedenfalls große Geweihe von Rentierbullen begehrt, weil sich daraus am besten Werkzeuge herstellen ließen. (7257 Zeichen)

    Nähere Informationen:

    Dr. Jacobo Weinstock-Arenovitz
    Staatliches Museum für Naturkunde
    Rosenstein 1
    70191 Stuttgart
    Tel. 07 11/ 8 93 61 81
    Fax 07 11/ 8 93 61 00

    Der Pressedienst im Internet: http://www.uni-tuebingen.de/uni/qvo/pd/pd.html

    Unter dieser Adresse ist auch eine Abbildung einsehbar, die auf Wunsch per E-mail zugeschickt werden kann.


    Bilder

    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Biologie, Geowissenschaften, Geschichte / Archäologie, Meer / Klima, Umwelt / Ökologie
    überregional
    Forschungsprojekte
    Deutsch


     

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