Krisenszenario:
In den hochentwickelten Industrienationen, welche alle an der okzidentalen Entfaltung der Erfahrungswissenschaften und der vor ihrem Hintergrund forcierten technologischen Rationalisierungsdynamik partizipieren, ist der gesellschaftliche Wandel der letzten Jahrzehnte stark durch das Problem der strukturellen Massenarbeitslosigkeit geprägt gewesen. Dieses Problem, das im klassischen Industriezeitalter nicht bestanden hat und erst etwa Mitte der 1970er Jahre aufgetaucht ist, besteht offenbar selbst bei denjenigen Industrienationen indirekt fort, denen es einstweilen gelungen ist, die Arbeitslosenrate auf ein niedriges Maß zurückzuführen: Ohne Gegenmaßnahmen, die ihrerseits einen Preis haben, droht die Arbeitslosenrate wieder zu steigen. So scheint etwa in den USA der Wirtschaftsboom der 1990er Jahre, der eine niedrige Arbeitslosenrate ermöglichte, zu einem guten Teil auf der enormen, gesellschaftlich beförderten Verschuldung privater Haushalte zu beruhen, die jährlich etwa um neun Prozent zugenommen hat. Auch in England, das heute ebenfalls über eine niedrige Arbeitslosenrate verfügt, scheint es ein "Wirtschaftswachstum per Kreditkarte" zu geben. England hat überdies eine auffallend niedrige Stundenproduktivität, und bei den USA wird schon seit längerem diskutiert, ob die dortige Dienstleistungskultur von niedrig-produktiven "Tüteneinpacker"-Jobs nicht Züge einer verschleierten Arbeitsbeschaffungsmaßnahme gigantischen Ausmaßes habe, auf Kosten der Produktivität. Auch die riesige Zahl von Gefängnisinsassen - die USA sind heute mit Abstand das Land mit der weltweit höchsten Rate von Gefängnisinsassen - wird unter dem Gesichtspunkt der Entlastungswirkungen für den Arbeitsmarkt diskutiert. Darüber hinaus stellt dort das staatliche Förderinstrument des "Earned Income Tax Credit" (EITC), das niedrig entlohnten Arbeitnehmern unterhalb eines bestimmten Jahreseinkommens unter die Arme greift und Millionen von arbeitenden Amerikaner zu Gute kommt, seit seinem Ausbau unter Clinton eine erhebliche Subventionierung der Erwerbsarbeit dar (vgl. auch den britischen "Working Tax Credit").
Es spricht viel - heute noch mehr als in den 1980er und 1990er Jahren - dafür, daß diese strukturelle Massenarbeitslosigkeit die Folge des arbeitssparenden technologischen Wandels und der Rationalisierung ist, also die Folge einer erfolgreichen Wissensgenerierung im weitesten Sinne. So entstand dieses Problem just in dem Jahrzehnt, in dem die Automation der Industrieproduktion große Forschritte machte und die Computertechnologie begann, in die Fabriken und Büros Einzug zu halten und ihr ungeheures, zweifellos bei weitem noch nicht ausgeschöpftes Potential zu entfalten. Sollte es in Zukunft so sein, daß die Zahl der durch den rasanten Wissensfortschritt und die "kreative Zerstörung" (Schumpeter) des kapitalistischen Wirtschaftens eingesparten Arbeitsplätze größer ist als die Zahl der neugeschaffenen, gerät die traditionelle Leistungsethik in eine fundamentale Krise. Denn gemäß dieser ursprünglich religiös begründeten, heute säkularisierten Ethik stellt Erwerbsarbeit das verbindliche Normalmodell des gesellschaftlichen Lebens dar, von dem abzuweichen Sanktionen und Stigmatisierung zeitigt. Wenn aber die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung "naturwüchsig" - d.h. ohne fragwürdige Gegenmaßnahmen wie den oben genannten - zum fortschreitenden Sinken des gesamtwirtschaftlichen Arbeitsvolumens führen sollte, könnten grundsätzlich nicht mehr alle am Normalmodell der Erwerbsarbeit teilhaben. Es ließe sich dann die an Erwerbsarbeit gebundene traditionelle Form von Leistungsethik, die auf Gleichheitsvorstellungen beruht, so nicht mehr fortführen. Wie tiefgehend eine solche Krise wäre, wird deutlich, wenn man sich vor Augen hält, daß diese Ethik in der über zweihundert Jahre währenden Geschichte der Industriegesellschaft den zentralen gesellschaftlichen "Kitt" darstellte (einen "Legitimationsglauben", für den sich Max Weber in seiner berühmten Studie zur protestantischen Ethik und zum Geist des Kapitalismus nicht umsonst zentral interessierte) und bis heute etwa die Struktur der sozialstaatlichen Institutionen und Umverteilungsmechanismen, insbesondere des Sozialversicherungssystems, trägt.
Das Programm finden Sie unter:
http://user.uni-frankfurt.de/~manfranz/workshop.html
Hinweise zur Teilnahme:
Termin:
14.07.2006 ab 09:00 - 15.07.2006 19:00
Veranstaltungsort:
Universität Frankfurt am Main, Westend-Campus, IG-Farben-Gebäude, Grüneburgplatz 1,
Nebengebäude, Raum NG 1.741a
60629 Frankfurt
Hessen
Deutschland
Zielgruppe:
Wissenschaftler
E-Mail-Adresse:
Relevanz:
international
Sachgebiete:
Gesellschaft
Arten:
Eintrag:
31.05.2006
Absender:
Anne Hardy
Abteilung:
Public Relations und Kommunikation
Veranstaltung ist kostenlos:
nein
Textsprache:
Deutsch
URL dieser Veranstaltung: http://idw-online.de/de/event17338
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