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10.06.2005 10:59

Wer schaute "rund"? - Jugendliche Mediennutzer in der späten DDR

Volker Schulte Stabsstelle Universitätskommunikation / Medienredaktion
Universität Leipzig

    Seit 2001 fördert die Deutsche Forschungsgemeinschaft das Projekt "Programmgeschichte des DDR-Fernsehens - komparativ". Insgesamt zehn Teilprojekte sind seither an den Universitäten in Halle/S., Berlin (Humboldt) und Leipzig sowie an der Hochschule für Film und Fernsehen in Potsdam-Babelsberg gelaufen. Im Rahmen des Teilprojektes "Rezeptionsgeschichte" befasst sich der Leipziger Kommunikationswissenschaftler Ray Rühle mit dem Thema "Mediennutzung von Jugendlichen in der DDR (1980er Jahre)".

    Auf der einen Seite sind Forschungen zu "Jugendlichen in der 1980er Jahren der DDR" ein von den Sozialwissenschaften recht gut bestelltes Feld; der Soziologe Bernd Lindner spricht beispielsweise von der "distanzierten Generation". Auf der anderen Seite weist die kommunikationswissenschaftliche Literatur an der Stelle "Rezipienten des DDR-Fernsehens" eine markante Lücke auf. Für Ray Rühle fügte sich das eine zum anderen, als er im Juni 2002 in das DFG-Projekt "Programmgeschichte des DDR-Fernsehens - komparativ" einstieg: Als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universität Leipzig nahm er sich des "Wandels der Mediennutzung und der kommunikativen Bedürfnisse von Jugendlichen in der DDR in den 1980er Jahren" an. Das Anziehende an dieser Altersgruppe fasst er in einen Satz: "Die Altersgruppe der nach 1960 Geborenen verhält sich anders als der Durchschnitt." Das betrifft sowohl ihre Verortung in der Gesellschaft als eben auch ihre Art der Mediennutzung.
    Galt in den 1950er Jahren noch die Formel "Tageszeit minus Arbeit minus Regeneration = Freizeit", so gewann freie Zeit über die folgenden Jahrzehnte an Umfang und an Bedeutung. Das betraf gerade die Generation der zwischen 1961 und 1975 Geborenen, die für einen Wertewandel steht.
    Zum einen war es die erste Generation in der DDR, die den - wenn auch bescheidenen - Wohlstand als gegeben angenommen hat. "Für sie war es normal, fünf Tage die Woche zu arbeiten", blickt Ray Rühle zurück. "Die Sechs-Tage-Arbeitswoche kannten sie nur noch aus den Berichten von Eltern und Großeltern." Die Folge war: Das Zeitbudget hatte sich verändert, das Maß an freier Zeit erkennbar zugenommen. Wobei es einen Unterschied gab: "Junge Frauen waren eindeutig schlechter gestellt als junge Männer." Zwar galt Gleichberechtigung im Berufsleben, doch in der Familie regulierten weiterhin traditionelle Werte die Zeitnutzung und -verteilung. Im Blick auf die gesamte Generation waren die Veränderungen bis in die 1980er Jahren hinein jedoch so weit gediehen, dass sich auch in der DDR Lebensstile entwickelt hatten, die maßgeblich von verschiedenen Aktivitäten der Freizeit geprägt wurden.
    Der sich differenzierenden privaten Lebenswelt kam zum zweiten in zunehmendem Maße die Funktion eines Ausgleichs gegenüber der Erstarrung in den politischen und gesellschaftlichen Sphären zu. "Diese Generation", erläutert Ray Rühle, "ist quasi gegangen, hat abgeschaltet. Eine Reformierung des Systems hat die 'distanzierte Generation' nicht mehr erwartet." War noch Mitte der 1970er Jahre eine gewisse Verbundenheit mit den Zielen der Politik zu verzeichnen, ging diese beginnend mit der Ausbürgerung Wolf Biermanns (1976) bis zum Ende der DDR 1989 stetig zurück.
    "Es war die erste Generation in der DDR, die sich von der vorgehenden unterschied - in ihrer Individualität und in ihrer politischen Konformität", resümiert der Leipziger Kommunikationswissenschaftler. In der Folge verstärkte sich in dieser Altersgruppe das Bedürfnis nach direkter und informeller Kommunikation - es bildeten sich alternative Teilöffentlichkeiten heraus. Entsprechend lässt sich in den 1980er Jahren auch ein Wandel der Mediennutzung feststellen, in dem sich der Wertewandel widerspiegelt. Zwar erreichten beispielsweise 1982 die Tageszeitung "Junge Welt", das Jugendradio DT64 sowie die Zeitschrift "Neues Leben" mehr Jugendliche als in den Jahren zuvor. Doch zur gleichen Zeit verlor das Jugendfernsehen mit seinen Sendungen "rund" und "hallo" an Rezipienten. Wurde Fernsehen vor allem genutzt, wenn eine längere Dauer an Freizeit verfügbar war, so der Rundfunk zur Entspannung und die Zeitung zur Information.
    Wie wenig das Mediensystem auf die veränderten Bedürfnisse der Jugendlichen reagierte, zeigt sich nachdrücklich an den Rezipienten-Zahlen: Für "rund" sank die Zahl der Stammzuschauer zwischen 1976 und 1982 von 42 auf 14 Prozent; der Anteil der Jugendlichen, die Jugendsendungen des Fernsehens mit "sehr gut" bzw. "gut" (mit Einschränkungen) bewerten, ging im selben Zeitraum um ein Viertel von acht auf zwei Prozent zurück. Demgegenüber nahm die Zahl der Zuhörer von DT64 zwischen 1976 und Anfang der 80er zu. Gleichzeitig gingen die Hörerzahlen der DDR-internen "Konkurrenz"-Sendungen "Beatkiste" und der "Notenbude" zurück, ebenso die Hörerzahlen von Radio RTL und RIAS. War RTL noch 1971 das beliebteste Programm, musste es diesen Platz 1976 an "hallo" (Stimme der DDR) abgeben, der 1982 schließlich von DT64 (Berliner Rundfunk) übernommen wurde. In Gebieten allerdings, in denen wie in Magdeburg oder Erfurt ein guter UKW-Empfang zu verzeichnen war, erreichten Programme aus der BRD mit 44 Prozent fast die Resonanz der DDR-Sender mit 54 Prozent, wenn nach der beliebtesten Sendung gefragt wurde.
    Für die Daten und Zahlen kann sich Ray Rühle auf den Fundus des Zentralinstituts für Jugendforschung Leipzig stützen, in dem unter anderem die Ergebnisse von Umfragen sowie Intervallstudien zu Freizeitorientierung, Mediennutzung, Wertorientierung und Zeitbudget vorliegen. Ebenso geben die Daten der Abteilung Zuschauerforschung des Staatlichen Komitees für Fernsehen und der Abteilung Hörerforschung des Staatlichen Komitees für Rundfunk, die heute im Deutschen Rundfunkarchiv Potsdam liegen, Auskunft über das Rezeptionsverhalten und seine Veränderung. Zwei Gruppendiskussionen haben sich ebenfalls als wichtige Quelle erwiesen - jeweils acht Teilnehmer erinnerten sich gemeinsam an ihre Erwartungen, Bewertungen und Nutzungen von DDR-Medien.

    Im Kern führen die unterschiedlichen Quellen immer wieder zu einem Fazit: Die Medien der DDR mussten seit Beginn der 1980er Jahre - wie auch die politische Führung und das ökonomische System - Glaubwürdigkeitseinbußen hinnehmen, die sich in der zweiten Hälfte der 1980er zu einer Krise zuspitzten. Zwar wurde das Fernsehen mehr oder minder zur Unterhaltung genutzt. Politische Information jedoch verlagerte sich in die Sphären der sozialen Kommunikation, aus denen dann auch die sozialen Bewegungen in der DDR hervorgingen.

    Daniela Weber


    Weitere Informationen:
    Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft
    Telefon: 0163 6 310 310
    E-Mail: rruehle@rz.uni-leipzig.de
    www.ddr-fernsehen.de


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Geschichte / Archäologie, Gesellschaft, Kunst / Design, Medien- und Kommunikationswissenschaften, Musik / Theater
    überregional
    Forschungsprojekte
    Deutsch


     

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