Mit Spenderorganen das eigene Leben zu retten und fortan Herz, Leber oder Niere, die ehemals zu einem anderen Menschen gehörten, als Teil der eigenen Person akzeptieren zu müssen, überschreitet Grenzen, die jahrhundertelang unverrückbar waren. Auch wenn die Betroffenen häufig bestreiten, daß sie deshalb psychischen und emotionalen Erschütterungen ausgesetzt sind, sehen sie sich doch in einer Lage, für die angemessene Bewältigungsformen eigentlich erst entwickelt werden müßten. In ihrer Habilitationsarbeit am Lehrstuhl für Psychologie II der Universität Erlangen-Nürnberg von Prof. Dr. Hans Werbik untersucht Dr. Heide Appelsmeyer psychosoziale Auswirkungen von Organtransplantationen vor dem Hintergrund der biographischen Entwicklung der Patienten. Psychologische Aspekte sind bei solchen Eingriffen keineswegs zu vernachlässigen: wie Ergebnisse anderer Forschergruppen zeigen, hängen Lebensqualität und Bewältigung nach der Transplantation durchaus nicht nur vom medizinischen Gelingen ab.
Daß menschliche Organe einem Körper entnommen werden können und im anderen weiterleben, ist mehr als medizinisch-technischer Fortschritt: es markiert eine kulturelle Umbruchsituation. Bestimmte traditionelle Deutungsmuster und soziale Sinnbestände werden aufgelöst. Die Grenzen zwischen Leben und Tod verwischen; persönliche Identität kann sich nicht mehr auf die Integrität des Körpers und die Einheit von Leib und Seele berufen. Über kurz oder lang wird die Transplantationsmedizin wohl den kulturspezifisch geprägten Begriff der "Person" und das Erleben des Körpers verändern.
Transplantationspatienten können damit als Träger eines tiefgreifenden soziokulturellen Wandels betrachtet werden. Die Untersuchung fragt nach Veränderungen ihres Verhältnisses zu sich selbst und zur Welt, also in ihrer personalen Identität und ihren sozialen Bezügen. Zudem interessieren Belastungsformen und Bewältigungsstrategien, emotionales Erleben und die leiblichen Erfahrungen, das Körperbewußtsein.
Einbezogen wird ein Vergleich leber-, nieren- und herztransplantierter Personen, da anzunehmen ist, daß die organspezifischen Erkrankungen und Therapien jeweils unterschiedliche Bewältigungs- und Erfahrungsmuster nach sich ziehen. Die medizinischen Umstände weichen voneinander ab, und die verschiedenen Organe sind
weder emotional noch symbolisch-kognitiv in gleicher Weise besetzt. In einer vergleichenden Perspektive läßt sich zum Beispiel klären, ob Patienten mit Nieren- oder Lebertransplantationen ihr Körperselbstbild ebenso als beeinträchtigt erleben, wie es für Patienten nach Herztransplantation in früheren Untersuchungen geschildert wird, und ob sich Phantasien über den Spender und das gespendete Organ nicht nur bei Herztransplantierten, sondern in ähnlicher Weise auch bei den anderen Patientengruppen einstellen.
Raum für Erfahrungen
Die Untersuchung bedient sich qualitativer Methoden, die an alltagssprachliche Kommunikationsformen anknüpfen und den Anspruch haben, den Interviewpartnern so viel Raum wie möglich für die Darstellung ihrer Erfahrungswelt zu gewähren. Unter den bisherigen Arbeiten finden sich zwar einige Fallstudien, aber nur wenige systematisch-übergreifende qualitative Studien, wie sie für die Beantwortung einiger Fragestellungen besonders geeignet erschienen. So wird in Studien im Umfeld der Herztransplantation immer wieder auf Tendenzen zur Abwehr und Leugung von Problemen verwiesen. Für diese Zielgruppe bieten qualitative Forschungsmethoden in der Erhebung wie auch in der Datenauswertung erhebliche Vorteile. Die mikroanalytischen sequentiellen Textauswertungsverfahren der qualitativen Sozialforschung erlauben es, Verleugnungstendenzen zu beurteilen, da sie auch auf Sinndimensionen und Bedeutungsstrukturen abzielen, die sich nicht in den Sichtweisen der Betroffenen erschöpfen.
Die Lebensgeschichte des Patienten bildet den Hintergrund der Untersuchung, wobei die Interviewpartner - im Sinne narrativer Interviews nach Fritz Schütze - die Erzählung selbst strukturieren. So soll die zeitliche Erlebensdimension chronisch kranker Personen bzw. transplantierter Patienten einbezogen werden, die sich von der gesunder Personen durch eine relativ begrenzte Offenheit des Zukunftshorizonts (Alfred Schütz) unterscheidet. Die existentielle Bedrohung, die mit schwerer Krankheit und Transplantation einhergeht, kann die Maßstäbe verändern, nach denen das eigene Befinden beurteilt wird.
Die Lebensgeschichte gibt frühere wie aktuelle Wandlungsprozesse im Selbst- und Weltverhältniss umfassend wieder und stellt das Individuum innerhalb seines sozialen Umfeldes (Eltern, Ehepartner, Kinder, Berufskollegen, Mitpatienten, betreuende Ärzte usw.) dar. Aussagen über Lebenszufriedenheit und emotionale Veränderungen durch die Transplantation können dadurch genauer beleuchtet werden, als dies mit quantitativen Erhebungsinstrumenten (z.B. Fragebogen) möglich wäre.
Wichtige Bereiche, die die Interviewpartner nicht von sich aus ansprechen, werden danach - gleichfalls in einem offenen Interviewverfahren - erhoben. Dies umfaßt das Erleben der ärztlichen Diagnose bezüglich der Transplantation, die Arzt-Patient-Kommunikation, körperliche Veränderungen, Veränderungen im sozialen Umfeld, Emotionen bzw. emotionale Belastungen des Patienten und seiner Familie, wahrgenommene Persönlichkeitsveränderungen, Gefühle/Phantasien in Bezug auf den Spender und das Spenderorgan, Vermutungen über die Genese der Krankheit, Zukunftsvorstellungen und religiöse Aspekte.
Geplant sind pro Untersuchungsgruppe (Leber-, Herz- und Nierenpatienten) jeweils 15 Interviews, die weitgehend vorliegen und derzeit ausgewertet werden. Die DFG fördert die Transkriptionen.
* Kontakt:
Dr. Heide Appelsmeyer, Lehrstuhl für Psychologie II
Kochstr. 4, 91054 Erlangen, Tel.: 09131/85 -22743, Fax: 09131/85 -26770
E-mail: heappels@phil.uni-erlangen.de
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Ernährung / Gesundheit / Pflege, Gesellschaft, Medizin, Psychologie
überregional
Forschungsprojekte
Deutsch
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