Sind die Substanzen, die als "Weichmacher" bekannt sind, tatsächlich eine Zeitbombe, die die Gesundheit der Bevölkerung bedroht? In Tierversuchen wurden hormonähnliche Wirkungen festgestellt, doch ob die Konzentrationen im menschlichen Organismus ausreichen, um Schaden anzurichten, ist umstritten. Das Institut für Arbeits-, Sozial und Umweltmedizin der Universität Erlangen-Nürnberg schickt sich an, diesen Streit zwischen Umweltverbänden, Politikern, Aufsichtsbehörden und Chemieindustrie zu entscheiden. Unter der Leitung von Prof. Dr. Jürgen Angerer soll ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördertes Vorhaben in Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Andreas Hirsch vom Institut für Organische Chemie klären, wie hoch die Belastung des Menschen mit diesen Stoffen tatsächlich ist. Projektbearbeiter ist Dr. Winfried Sieber.
Als Schmier- und Lösemittel oder Textilhilfsmittel, in Munition, in Parfüms und Deodorants sind Salze und Ester der o-Phthalsäure zu finden, die zur Stoffklasse der Phthalate zusammengefaßt werden. Da der aus dem Griechischen stammende Begriff recht fremdartig wirkt, werden diese Stoffe in der Umgangssprache meist nach ihrem Hauptverwendungszweck benannt: sie dienen als Weichmacher für PVC, Polystyrol und andere Kunststoffe.
Aufgrund der Vielfalt ihrer Einsatzmöglichkeiten und hoher Produktionszahlen sind Phthalate heute allgegenwärtig. Zu den jährlich rund 100.000 Tonnen Di(ethylhexyl)phthalat, die mit Produktion und Weiterverarbeitung in die Umwelt gelangen, kommen etwa weitere 200.000 Tonnen, die durch die Deponierung von phthalathaltigen Abfällen emittiert werden. Umweltmedizinisch besonders wichtig sind darüber hinaus diejenigen Phthalatmengen, die in der direkten Umgebung des Menschen aus Verbrauchsgegenständen, Bodenbelägen, Verpackungen entweichen und die über die Atemwege oder den Mund - mit der Nahrung oder beispielsweise über Beißringe - aufgenommen werden. In der Außenluft schwankt der Gehalt dieser Substanzen zwischen drei Nanogramm pro Kubikmeter über dem Nordatlantik und 130 Nanogramm in größeren Städten (ein Nanogramm ist der einmilliardste Teil eines Gramms). Für Gewässer liegt der Wert um den Faktor 1.000 höher: 0,7 Mikrogramm pro Liter im Meerwasser, 10 Mikrogramm in Binnengewässern. In Seen und Meere gelangen die Stoffe mit dem Niederschlag, als wash-out aus der Atmosphäre.
Die vergleichsweise hohen Konzentrationen in der Umwelt sagen jedoch noch nichts über die Gesundheitsgefährdung aus, zu der nur wenige gesicherte Ergebnisse vorliegen. Werden Phthalate dauerhaft in größeren Mengen aufgenommen, sind Leber- und Nierenschäden möglich. Ein krebserzeugendes Potential und hormonähnliche Wirkungen hat man bisher nur im Tierversuch beobachtet, und auch nur dann, wenn relativ hohe Dosen verabreicht wurden. Zugleich wurde dabei festgestellt, daß Phthalate die Östrogen-Produktion hemmen.
Streit um das Risiko
Ob solche Wirkungen auch beim Menschen - und zwar unter "normalen" Bedingungen - zu befürchten sind, ist bisher ungeklärt und nicht zuletzt deshalb Gegenstand heftiger Kontroversen. So hat ein Bundestagsabgeordneter in der Zeitung für Umweltmedizin ein "Herstellungs- Einfuhr- und Verwendungsverbot" für Phthalate verlangt. Greenpeace warnt vor einem überhöhten Quantum von Weichmachern, die von Spielsachen ausgedünstet werden, was die Landesgewerbeanstalt Bayern bei einer Prüfung aber nicht bestätigte. Der European Chemical Industry Council, der die europäische Chemieindustrie vertritt, sieht derzeit keinerlei Risiko für die menschliche Gesundheit oder die Umwelt durch Phthalate.
Um derartige Streitfragen klären zu können, hält es u. a. das Beratergremium für umweltrelevante Altstoffe der Gesellschaft Deutscher Chemiker für wichtig, zu erforschen, welche Phthalatmengen die Menschen tatsächlich aufnehmen. Das DFG-Projekt "Belastung des Menschen durch Phthalate" soll einen wesentlichen Beitrag zur Antwort auf diese Frage liefern. Neben der Untersuchung beruflich exponierter Personen liegt der Schwerpunkt darauf, die Phthalatbelastung der Allgemeinbevölkerung zu bestimmen.
Bisherige Versuche sind daran gescheitert, daß man versuchte, die Weichmacher selbst in den menschlichen Körperflüssigkeiten ausfindig zu machen. Unmöglich ist dies wegen der sogenannten "exogenen Kontamination": während der Entnahme und Aufbereitung der Proben werden unvermeidlicherweise so viele Phthalate "von außen" in das Probenmaterial eingeschleppt, daß alle so gewonnenen Meßergebnisse mehr ein Abbild der Phthalatkonzentration in der Umwelt ergeben haben, als den Gehalt in den Körperflüssigkeiten der Menschen widerzuspiegeln.
Um sicherzugehen, daß es zu keiner solchen Verfälschung kommt, werden in dem Erlanger Vorhaben nicht die Phthalate selbst, sondern deren Stoffwechselprodukte, die erst im Organismus entstehen, im menschlichen Harn gemessen. Dazu müssen zunächst die Metaboliten - Substanzen, die für den normalen Ablauf von Stoffwechselprozessen unentbehrlich sind - mit Methoden der synthetischen organischen Chemie hergestellt werden. Die Zusammenarbeit der Umweltmediziner mit dem Lehrstuhl für Organische Chemie ist deshalb unverzichtbar. Das Vorhaben zeigt so beispielhaft die Notwendigkeit interdisziplinärer Zusammenarbeit auf, die künftig auf dem Gebiet der Arbeits- und Umweltmedizin noch häufiger auftreten wird.
Biological Monitoring
Mittels der Referenzsubstanzen lassen sich Analyseverfahren erarbeiten und validieren, mit denen die gesuchten Stoffwechselprodukte in biologischen Materialien bestimmt werden können, eine Vorgehensweise, die als Biological Monitoring bezeichnet wird. Das Erlanger Institut für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin hat bereits vor 30 Jahren damit begonnen, diese Meß- und Kontrollstrategie für die unterschiedlichsten Schadstoffe zu entwickeln, und ist heute auf diesem Gebiet eine auf nationaler wie internationaler Ebene führende Einrichtung.
* Kontakt:
Prof. Dr. Jürgen Angerer, Dr. Winfried Sieber
Institut für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin, Direktor: Prof. Dr. Dr. h.c. Gerhard Lehnert
Schillerstraße 25/29, Universitätsstraße 42, 91054 Erlangen
Tel.: 09131/85 -22374
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Biologie, Chemie, Ernährung / Gesundheit / Pflege, Medizin, Meer / Klima, Umwelt / Ökologie
überregional
Forschungsprojekte
Deutsch
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