"Oft entscheidet die erste halbe Sekunde, ob der Zeitungsleser sich für einen Bericht, ein Thema interessiert oder nicht", erklärt Michael Haller, Professor für Journalistik und wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Praktische Journalismusforschung in Leipzig. Unter seiner Leitung wurde ein Verfahren zur Analyse des Blickverlaufs für die Zeitungsnutzung entwickelt. Das so genannte Eyetracking erlaube mit Hilfe winziger Kameras zu erkennen, wie Zeitungsseiten lesefreundlicher aufbereitet werden können.
Die tägliche Zeitungslektüre, so erkannte Haller, wird eher ausnahmsweise durch bewusste Willensakte gesteuert. "Aufmerksamkeit wird im Vorbewussten geweckt, während einer Zeitspanne von höchstens 15 bis 20 Zehntelsekunden." Entscheidend sei, dass die Aufmerksamkeit in Neugier umschlage, aus der dann ein konkretes Leseinteresse hervorgehe. "Die meisten Menschen wissen gar nicht, warum sie sich für dieses Thema interessieren und nicht für jenes." Wenn man sie frage, was sie gelesen hätten, kämen meist unbrauchbare Antworten. Prof. Haller: "Die Befragten sagen dem Interviewer, was sie glauben, was er von ihnen erwartet - zum Beispiel, dass diese Nachricht hier wichtig sei, jene dort aber peinlich." Wirklich gelesen hätten sie aber meist das ihnen Peinliche.
Hallers Ansatz wird gestützt durch die jüngsten Erkenntnisse aus der Neurophysiologie. Im Gehirn werden infolge entsprechender Reize Entscheidungen getroffen, noch ehe der Vorgang gedacht und in einen Willensakt überführt wird. "In Bruchteilen von Sekunden selektiert und gewichtet der Nutzer noch während der Wahrnehmung", so Haller. Wenn der Zeitungsleser sich für die Lektüre eines Berichts entscheidet, "dann hat er seine Wahl schon vorher unmerklich getroffen".
In dem von Prof. Haller und seinen Mitarbeitern entwickelten Forschungsprogramm wird die Nutzung des Zeitungsangebots zeilengenau untersucht. Rasch zeigen sich blattmacherische Schwächen, die zum Beispiel bewirken, dass viele Leser über eine Seite nur hinweghuschen, obwohl sie Themen behandelt, für die sie sich im Grunde interessieren. Haller: "Dabei handelt es sich nicht nur um grafische Probleme. Oft sind es schlecht getextete Überschriften, abstrakt formulierte Unterzeilen oder irritierende Bildaussagen." Tatsächlich nehme der Blick des Lesers Ungereimtheiten blitzschnell wahr, sagt Haller. "Heute sind die Erwachsenen für den Medienkonsum gut konditioniert. Wenn sie irritiert werden, blättern sie sogleich weiter."
Aus der Blickverlaufsmessung hat Hallers Team inzwischen ein "Benchmarking" mit Sollwerten entwickelt. So können die Forscher genau sagen, ob eine Seitenaufmachung "funktioniert" oder ob der Blick des Lesers irritiert wird und kein Interesse aufkommen lässt.
Bei der "Frankfurter Rundschau" wird dieses Verfahren - neben einem umfangreichen Inhaltsanalyse-Programm - erstmals eingesetzt, um den Erfolg von Produktänderungen kontinuierlich und möglichst zeitnah ermitteln zu können. "Wir messen das veränderte Nutzungsverhalten und stellen der Redaktion die Daten zur Verfügung", erläutert der Leipziger Journalistikprofessor. "Wenn alles gut läuft, wird daraus ein kontinuierlicher Optimierungsprozess." Ziel dieser angewandten Forschung ist es, die tagtägliche Nutzung der Zeitung zu erhöhen.
Mit dem Frankfurter Zeitungshaus wurde vereinbart, die "Frankfurter Rundschau" mit dieser "Prozesseingriffsforschung" bis zum Herbst 2006 zu begleiten. Bis dahin wollen die Geschäftsleitung und Chefredaktion das Blatt weiter modernisieren und auch mit neuen Elementen und Produkten ausbauen.
tob
Weitere Informationen:
Prof. Dr. Michael Haller
Telefon: 0341 97-35751
E-Mail: haller@uni-leipzig.de
www.uni-leipzig.de/journalistik
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Medien- und Kommunikationswissenschaften
überregional
Forschungs- / Wissenstransfer, Forschungsprojekte
Deutsch
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