Sozialwissenschaften
VW-Stiftung foerdert FAU-Projekt
Japan und das Zeitkonzept des Westens
In den Prozess, der das Selbstverstaendnis der modernen japanischen Gesellschaft formte, sind westliche Vorstellungen und Begriffe eingeflossen und "mitverarbeitet" worden. In einem Forschungsprojekt am Sozialwissenschaftlichen Forschungszentrum (SFZ) der Universitaet Erlangen-Nuernberg hat Dr. Shingo Shimada diesen Vorgang der Aneignung und Umbewertung am Beispiel des Themas 'Zeit' aufgegriffen. Das Projekt lief mit Unterstuetzung der Volkswagen-Stiftung im Rahmen des Forschungsschwerpunktes "Das Fremde und das Eigene - Probleme und Moeglichkeiten interkulturellen Verstehens".
Das Forschungsprojekt "Arbeitszeit, Freizeit, Familienzeit. Der Umgang mit westlichen Zeitlichkeitskonzepten in der japanischen Gesellschaft" wurde von Anfang Oktober 1993 bis Ende September 1996 in Zusammenarbeit mit der Hitotsubashi-Universitaet (Tokyo) durchgefuehrt. Das Hauptinteresse des Projektes, das empirische und theoretische Untersuchungen umfasste, galt der Methodologie und der Theorie des Kulturvergleichs, die auch die gesellschaftlich-politische Frage nach dem Verhaeltnis vom 'Eigenen' zum 'Fremden' in sich traegt.
In einem Ort am Rande der Grossstadt Nagoya wurde in vier Abschnitten eine Feldforschung durchgefuehrt. Der Ort zeichnet sich dadurch aus, dass er sich in kuerzester Zeit von einem baeuerlichen, traditionellen Dorf zu einem modernen Stadtteil entwickelt hat. Dort wurden 65 lebensgeschichtliche Interviews mit Angehoerigen unterschiedlicher Bevoelkerungsgruppen gefuehrt. Die Mehrzahl dieser Interviews wurde transkribiert und zum Teil ins Deutsche uebersetzt. Ihre Inhalte spiegeln die Veraenderungsprozesse des Ortes und der japanischen Gesellschaft wider.
Bei der Auswertung dieser Interviewmaterialien wurden Themen wie "Heirat als lebensgeschichtliche Markierung", "Hausfrauenkonzept und weibliches Selbstverstaendnis" sowie die "Arbeitsbezogene maennliche Lebenslaufvorstellung" herausgearbeitet. Ausserdem wurde eine Erzaehlweise der Lebensgeschichten entdeckt, in der die wichtigsten lebenswegbestimmenden Entscheidungen als nicht von dem erzaehlenden Subjekt allein getroffen, sondern von seinem gesamten sozialen Umfeld mitgetragen dargestellt werden. Diese Erzaehlweise, die im Verlauf des Projektes als "Erzaehlperspektive des 'Getragenseins'" bezeichnet wurde, bietet einen wichtigen Ansatz zum Verstaendnis des Individuums innerhalb der japanischen Gesellschaft, der ueber die gaengige Gegenueberstellung von westlichem Individualismus und japanischem Kollektivismus hinausgehen mag.
Forscher im Identitaetskonflikt
Parallel zu diesen empirischen Arbeiten wurde eine begriffshistorische und theoretische Untersuchung zur Frage der Identitaetskonstruktion durchgefuehrt, da sich im Verlauf des Forschungsprojektes die Klaerung dieser Frage fuer die Interpretation der empirischen Materialien als unumgaenglich erwiesen hatte. Denn das Problem, das in der Auswertungsphase auftauchte, erwies sich als doppeldeutig:
Einerseits enthielten die Begriffe, die man als Forscher verwendete, bereits die Perspektivitaet, die vor der Interpretation der Interviewtexte und der anderen Materialien die Sichtweise auf die japanische Kultur als einer fremden bestimmt hatte. Daraus resultierte die Frage, wie man sich als Forscher der wissenschaftlichen Begriffe bedienen kann, ohne in eine unreflektiert-eurozentrische Sichtweise zu geraten.
Andererseits mussten auch die historischen Hintergruende der Verbreitung dieser Begriffe in Japan beruecksichtigt werden, wenn man die Interviewtexte, in denen diese Begriffe und Konzeptionen vorkamen, interpretieren wollte.
Durch diesen Teil der Untersuchung konnte nicht nur herausgearbeitet werden, wie sich das Selbstverstaendnis der japanischen Kultur durch den Modernisierungsprozess seit der zweiten Haelfte des 19. Jahrhunderts herausbildete, sondern auch, auf welche Weise die soziologische Perspektive auf fremde Kulturen zustandekam. Die Auseinandersetzung mit den Hauptkategorien der Soziologie "Gemeinschaft", "Gesellschaft", "Religion", "Staat" und "Nation" konnte aufzeigen, dass eine unreflektierte Anwendung dieser Begriffe auf eine fremde Kultur Probleme hervorbringen kann, da sie den Blick der Forscher auf eine bestimmte Perspektive festlegen.
Das "kulturelle Gedaechtnis"
Abschliessend wurden die beiden empirischen und theoretischen Ebenen der Untersuchung unter dem Thema des "kulturellen Gedaechtnisses" zusammengefuehrt, womit eine neue Moeglichkeit der kulturvergleichenden Forschung skizziert wird. Denn das Konzept des "kulturellen Gedaechtnisses" ermoeglicht eine Verbindung zwischen den Lebensgeschichten der Betroffenen als Ausdruck des individuellen Gedaechtnisses und dem diskursiven Prozess, in dem die Begriffe innerhalb einer Gesellschaft als Ausdruck des kollektiven Gedaechtnisses ihren Sinn erhalten. Das Forschungsprojekt konnte aufzeigen, wie das kulturelle Gedaechtnis zustande kommt und wie es sich in einem kollektiven Rahmen wie dem der Nation manifestiert. So konnten durch dieses Forschungsprojekt einige Ansaetze zur Klaerung der fuer die heutige globale Situation immer wichtiger werdende Frage nach dem Verhaeltnis zwischen dem 'Fremden' und dem 'Eigenen' gewonnen werden.
Der Endbericht dieses Forschungsprojektes mit dem Titel "Biographie, Kultur, Identitaet" liegt in der Geschaeftsstelle des SFZ zur Einsicht vor.
Kontakt: Prof. Dr. Manfred Stosberg, Dr. Shingo Shimada, Sozialwissenschaftliches Forschungszentrum, Findelgasse 7/9, 90402 Nuernberg, Tel.: 0911/5302 -604, Fax: 0911/5302 -637, E-mail: sfz@wiso.uni-erlangen.de
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Gesellschaft
überregional
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Deutsch
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