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26.06.1997 00:00

Verlaufsphänomene der Visualisierungsgeschichte naturkundlicher Objekte

Dr.rer.pol. Dipl.-Kfm. Ragnwolf Knorr Presse und Kommunikation
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

    Anthropologie: DFG foerdert FAU-Projekt

    Heilkraeuter und Skelette fuer den Anschauungsunterricht

    Abbildungen sind aus Lehrbuechern der Naturkunde, aus Medizin, Zoologie und Botanik nicht wegzudenken: keine noch so genaue Beschreibung kann die Anschaulichkeit von Bildern ersetzen. Bevor die Fotografie und neuere graphische Techniken eine wirklichkeitsgetreue Darstellung sicherten, war das Geschick von Zeichnern und Malern gefragt - teils mit ausgefeilten, erstaunlich realistisch wirkenden, sogar kuenstlerisch hochwertigen Ergebnissen. Doch auch grobe, verzerrende Vereinfachungen kamen vor, und das nicht etwa nur zu Beginn der Entwicklung. Ein bereits erreichtes hohes Niveau konnte fuer mehrere Jahrhunderte wieder verlorengehen. An der Erziehungswissenschaftlichen Fakultaet der Universitaet Erlangen-Nuernberg wird die Bebilderung medizinisch-naturkundlicher Lehrbuecher fuer Untersuchungen, die den Verlauf kulturgeschichtlicher Entwicklungen verfolgen, als Beispiel herangezogen.

    Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat Professor Dr. Max Liedtke, Institut fuer anthropologisch-historische Bildungsforschung, Drittmittel fuer das Projekt ueber Verlaufsphaenomene der Visualisierungsgeschichte naturkundlicher Objekte bewilligt. Hintergrund des Projektes ist die Frage, ob und inwieweit sich Verlaufsformen der biologischen Evolution auch in kulturgeschichtlichen Ablaeufen wiederfinden bzw. welche speziellen Verlaufsformen sich in der Kulturgeschichte finden.

    Innerhalb des Institutes sind zu diesem Fragenkreis bereits Untersuchungen ueber Verlaufsformen in der Entwicklung der Schreibgeraete und der liturgischen Gewaender durchgefuehrt worden. Zu den elementaren, durchgaengig belegbaren Verlaufsformen zaehlen das Konkurrenzprinzip und die sich aus der Wirkung des Konkurrenzprinzips ergebende Hoeherdifferenzierung, weiterhin die Ausbildung von Varianz, die Entwicklung neuer Formtypen durch Merkmalszunahme, die Erreichung qualitativ neuartiger Niveaus durch die Verknuepfung bislang getrennt verlaufener Traditionsstroeme und vieles mehr.

    Die gegenwaertige Untersuchung, die schwerpunktmaessig von Dr. Michael Freyer und Christian Nowak durchgefuehrt wird, bezieht sich paradigmatisch auf die Darstellungsgeschichte von drei biologischen Themenbereichen: Darstellung des menschlichen Skeletts, der Schmerzdroge Bilsenkraut und der Heilpflanze Eisenkraut. Diese Beispiele wurden ausgewaehlt, weil die Abbildungsgeschichte dieser Objekte relativ ausgedehnt ist. Es werden wissenschaftliche Darstellungen und Abbildungen in naturkundlichen Schulbuechern recherchiert.

    Rueckschritte und Relikte

    Wie sich bei der Vorrecherche zeigte, zaehlen zu den gaengigen Verlaufsformen in der Geschichte dieser Abbildungen offensichtlich:

    (1) langfristige Bildtraditionen, die in einer Stagnation der Wissensakkumulation gruenden;

    (2) kurz- bis mittelfristige Bildtraditionen, die durch verlagsoekonomische Gesichtspunkte bedingt sind;

    (3) zeitspezifische Entwicklungsschritte: Unterscheidbarkeit von Phasen der Stagnation und intensiven Wandels im Gesamtverlauf;

    (4) mehrstufiger Verlauf der Entstehung des realistischen Abbildes;

    (5) Farbqualitaet und Differenziertheit der Wiedergabe naturkundlicher Objekte entwickeln sich teilweise in getrennten Zeitraeumen;

    (6) Bild und Text entwickeln sich aus oekonomischen Gruenden zeitweilig getrennt voneinander;

    (7) mehrstufiger Verlauf der Integration von Abbildungen in die Texte;

    (8) Abhaengigkeit der Abbildungsqualitaet von bestimmten kulturellen Bedingungen: von der Einfuehrung neuer Bildproduktions- und -reproduktionstechniken, vom Ausbildungsstand der medizinisch-naturkundlichen Zeichner und Maler usw., vom Wandel der Kunstrichtungen, von der finanziellen Leistungsfaehigkeit der Produktabnehmer, vom Wandel der gesellschaftlichen bzw. fachwissenschaftlichen Bedeutung des medizinisch-naturkundlichen Bildes, von der Abhaengigkeit gegenueber ideologisch gepraegten Vorgaben;

    (9) Differenz zwischen der Qualitaetsentwicklung des wissenschaftlichen und des schulischen Lehrbuch-Bildes, d.h. ein ueber lange Zeitraeume zu verfolgendes Zurueckbleiben des schulischen Lehrmediums hinter der wissenschaftlichen Objektwiedergabe;

    (10) deutliche Differenzen in der Qualitaetsentwicklung zwischen dem botanischen und dem zoologischen bzw. anatomisch-menschenkundlichen Bild;

    (11) Reliktbildung (beispielsweise innerhalb der Skelettdarstellung: aus dem Todessymbol "Schaufel neben dem Skelett", wie es dem Skelettbild ab dem 16. Jahrhundert beigefuegt war, entsteht ein "Stock" ohne Symbolgehalt);

    (12) Luxurierungen (z. B. in Attributen des Skelettbildes, die urspruenglich erlaeuternd wirken bzw. die Aufmerksamkeit fesseln sollten, aber schliesslich in einer Weise wuchern konnten, dass sie nur noch symbolische oder dekorative Funktionen hatten und von der exakten Erfassung des Praeparates ablenkten).

    Unter den hier gefundenen Feinstrukturen des Verlaufs sind in erster Linie die unterschiedlich bedingten Bildtraditionen und die phasenspezifische Intensivierung der Qualitaetssteigerung des medizinisch-naturkundlichen Bildes hervorzuheben. Einfluesse abbildungstechnischer Veraenderungen, die zeitweise auch sprunghafte Rueckschritte in der Entwicklung verursachen koennen, sowie Abhaengigkeiten der Bildqualitaet vom fachwissenschaftlichen Ausbildungsstand der medizinisch-naturkundlichen Zeichner, Radierer usw. sind ebenso auffaellig.

    Etliche kulturethologische Phaenomene wie Reliktbildung und Luxurierung liessen sich, wie unter (1) - (12) angesprochen, ebenfalls belegen. Ein "sprunghafter Qualitaetsrueckschritt" kann schon durch die Entwicklung neuer, kostenguenstiger und hohe Auflagen ermoeglichender Produktionsverfahren verursacht sein.

    Kontakt: Prof. Dr. Max Liedtke, Dr. Michael Freyer, Institut fuer anthropologisch-historische Bildungsforschung, Regensburger Strasse 160, 90478 Nuernberg, Tel.: 0911/53 02 -519, Fax: 0911/53 02 -716 und 0911/40 10 483, E-mail: LIED055@EWF.UNI-ERLANGEN.DE


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Geschichte / Archäologie, Gesellschaft
    überregional
    Es wurden keine Arten angegeben
    Deutsch


     

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