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26.05.2000 15:12

Etikettenwechsel oder Strukturwandel? - Umwandlung kollektiver Betriebsformen in Rußland

Gertraud Pickel Presse und Kommunikation
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

    Was wird im heutigen Rußland als öffentlich, was als privat angesehen? Wie verläuft die Grenzlinie zwischen Politik und Verwaltung einerseits und Wirtschaft auf der anderen Seite? Welcher Einflußbereich ist dem Staat vorbehalten, und wo soll der Markt die Steuerung übernehmen? Zerstörung oder Wandel alter Strukturen und den Aufbau eines Netzes von neuen Bezugspunkten, an denen sich frühere Sowjetbürger mittlerweile im täglichen Leben orientieren können, verfolgt Dr. Peter Lindner vom Erlanger Institut für Geographie in landwirtschaftlich geprägten Gebieten Rußlands, die als beispielhaft herangezogen werden können. Daß Strukturen aus der Zeit des Sozialismus, wenn auch vielleicht unter neuem Namen verborgen, weiterhin eine wichtige Rolle spielen, brachten während der Vorbereitungsreisen geführte Interviews bereits klar zum Ausdruck.

    Der Zusammenbruch der Sowjetunion und die Hinwendung zur Marktwirtschaft in der Russischen Föderation stellen etablierte räumliche Beziehungsgefüge auf allen Maßstabsebenen in Frage. Administrative Grenzen werden neu gezogen, Migrationsmuster ändern sich, neue wirtschaftliche Verflechtungen werden etabliert, und bislang gängige Vorstellungen von "öffentlichen" und "privaten" Räumen verlieren ihre Gültigkeit.

    Alltag im Kollektiv

    In ländlichen Regionen gehen dabei vor allem von der Umwandlung der ehemaligen Kollektivbetriebe in Aktiengesellschaften, Genossenschaften und privatbäuerliche Unternehmen weitreichende Wirkungen aus, da diese nicht nur "Produktionsstätten" waren, sondern in erheblichem Maße auch Infrastruktur und Sozialleistungen bereitstellten. Kindergärten, Schulen, Ambulanzstationen sowie Straßen und Wohnungen waren ohne die Mithilfe der Kolchosen und Sowchosen von den Gemeindeverwaltungen alleine nicht zu unterhalten. Die Kollektivbetriebe strukturierten deshalb in entscheidender Weise den Alltag der Bevölkerung in ländlichen Regionen Rußlands, und ihre Auflösung bzw. Umwandlung hat weitreichende Folgen für das soziale Leben in den Dörfern.

    Diese Folgen, neu auftretende Probleme ebenso wie Chancen, stehen im Zentrum des Projektes. Dabei wird davon ausgegangen, daß "räumliche Beziehungen" und die Definition von "Räumen" - wirtschaftliche und politisch-administrative Grenzziehungen ebenso wie das Verhältnis von "öffentlicher" zu "privater" oder "staatlicher" zu "marktwirtschaftlicher" Sphäre - eng mit dem sozialistischen System von Herrschaft, Legitimation und Symbolik verbunden waren und zum Teil noch immer sind.

    Die Akteure der Umstrukturierungen beziehen sich auf diese drei Aspekte sozialer Institutionen. Ihre Handlungsstrategien sowie der zirkuläre Prozeß der "Definition von Räumen als Kontexte für soziale Interaktion" und der rückwirkenden "Stabilisierung von Räumen und sozialen Strukturen durch diese Interaktion" bilden neben den unmittelbaren "Folgen" der Umbruchssituation den zweiten Untersuchungsschwerpunkt.

    Beides soll anhand ausgewählter Dörfer und landwirtschaftlicher Betriebe im europäischen Teil Rußlands in erster Linie mit qualitativen Methoden empirischer Sozialforschung untersucht werden. Übergeordnetes Ziel ist es damit, von der Grundlage eines nicht-objektivistischen Raumbegriffes aus einen Beitrag zur Transformationstheorie zu leisten.

    Das Projekt wurde im wesentlichen im Lauf des Jahres 1999 konzipiert. Zwei Vorbereitungsreisen im April und im August dienten dazu, mit der derzeitigen Situation im ländlichen Raum sowie mit von Moskau aus durchgeführten Forschungsprojekten vertraut zu werden, Kooperationspartner zu finden und die Rahmenbedingungen für Feldforschungen in Regionen zu prüfen, die als Beispiel in Frage kamen.

    Im Dezember 1999 wurde das Vorhaben von der Deutschen Forschungsgemeinschaft in Form eines 18-monatigen Habilitandenstipendiums sowie einer begleitenden Sachmittelförderung in Höhe von 22.000 Mark bewilligt. Es wird in Kooperation mit der "Moscow School of Social & Economic Sciences" durchgeführt und läuft von März 2000 bis Februar 2002.

    * Kontakt:
    Dr. Peter Lindner, Institut für Geographie
    Kochstraße 4/4, 91054 Erlangen
    Tel.: 09131/85 -22006
    E-Mail: plindner@geographie.uni-erlangen.de


    Weitere Informationen:

    http://www.msses.co.ru/


    Bilder

    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Geowissenschaften, Gesellschaft, Politik, Recht, Wirtschaft
    überregional
    Forschungsprojekte
    Deutsch


     

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