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26.02.2001 12:44

Verräter, Mitläufer, Opfer

Ilka Seer Stabsstelle Kommunikation und Marketing
Freie Universität Berlin

    "Menschen in Berlin. Das letzte Telefonbuch der alten Reichshauptstadt 1941"

    Theodor Heuss, Otto Grothewohl, Erich Kästner, Käthe Kollwitz - eine sehr kleine Auswahl prominenter Namen, aufgeführt im letzten vom Naziregime herausgegebenen amtlichen Fernsprechbuch der alten Reichshauptstadt Berlin. Das 1941 erschienene Telefonbuch wurde vom mittlerweile emeritieren Politik-Professor Dr. Harmut Jäckel der Freien Universität Berlin gesichtet und zum Anlass einer biographischen und kulturhistorischen Recherche genommen. Das Ergebnis dieser Arbeit zeigt sich in seiner Publikation "Menschen in Berlin. Das letzte Telefonbuch der alten Reichshauptstadt 1941". Von den damals insgesamt 315 000 Einträgen, die dieses Buch enthielt, werden 231 Einzelbiographien von Einwohnern Berlins unter dem Hakenkreuz nicht nur vorgestellt, sondern auch in einen geschichtlichen Zusammenhang gebracht.

    "Dieses Buch ist vor allem kein Lexikon und auch kein Nachschlagewerk", betont Jäckel. Es soll vielmehr das Leben von 231 Menschen der Stadt Berlin im Kriegsjahr 1941 zeigen. Wie sie damals gelebt haben - was sie damals erlebt haben. Menschen, deren Schicksale vom Krieg und den
    Greueltaten des Naziregimes geprägt wurden, die von dieser Diktatur profitierten, darunter gelitten haben, die dieser Stadt den Rücken kehrten oder kehren mussten.

    Auf dem Berliner Flohmarkt an der Straße des 17.Juni war Jäckel dieses geschichtsträchtige Dokument in die Hände gefallen. Inspiriert von der Idee eines Bekannten entstand zunächst das Vorhaben, eine kurze Arbeit mit dem Titel "Portrait eines Telefonbuches" zu schreiben. Bald musste Jäckel jedoch erkennen, dass dieses Thema dafür zu umfassend war. Fasziniert von diesem Fernsprechbuch machte er sich während der nächsten drei Jahre daran, eine persönliche Auswahl von Einzelbiographien aus den damals insgesamt 315 000 registrierten Telefonbesitzern zu erarbeiten und sie in seinem Buch "Menschen in Berlin. Das letzte Telefonbuch der alten Reichshauptstadt 1941" vorzustellen.

    Verblüffend ist die Fülle der bekannten Namen, die im amtlichen Fernsprechbuch verzeichnet sind: Neben Gelehrten wie Max Planck, Otto Hahn, Max von Laue und Carl Friedrich von Weizäcker finden sich bildende Künstler wie Georg Kolbe und Käthe Kollwitz, als "entartet" diffamierte Maler wie Erich Heckel, Erich Nolde, Max Pechstein oder Christian Schadt sowie Schriftsteller wie Gottfried Benn, Günter Erich und Erich Kästner. Auch Namen aus den Gründerjahren der Bundesrepublik Deutschland - Theodor Heuss, Heinrich Lübke oder Kurt Georg Kiesinger - finden sich dort zusammen mit den Politik-Größen zu Beginn der ehemaligen DDR: dem ersten Ministerpräsidenten Otto Grothewohl beispielsweise oder dessen Außenminister Georg Dertinger.

    Große Teile der höherrangigen Generalität und Admiralität der Wehrmacht sind, was im Gegensatz zu der sonst praktizierten Geheimhaltungsmentalität sehr erstaunt, zusammen mit einer ganzen Reihe hoher Mitglieder des Reichssicherheitshauptamtes, des SD und der SS mit Anschrift und Telefonnummer in diesem Telefonbuch verzeichnet. Offenbar konnten diese Funktionsträger zur damaligen Zeit angstfrei und ohne Sorge um die eigene Familie leben.

    Ganz im Gegensatz zum jüdischen Teil der Berliner Bevölkerung. Im Fernsprechbuch von 1940 waren noch mehr als 8000 Eintragungen jüdischer Telefoninhaber vorhanden. Aber schon im Juli 1940 wurde ihnen der Anschluss entzogen. Auf Antrag konnte jedoch weiterhin der Besitz eines Fernsprechers genehmigt werden. Somit finden sich 1941 noch 358 jüdische Ärzte, die sich "Behandler" nennen lassen mussten, 54 Rechtsanwälte (Konsulenten), drei Rabbiner sowie 90 weitere Berliner Juden, die aus anderen Gründen privilegiert waren. Sie waren leicht zu erkennen - nach der "Zweiten Verordnung zur Durchführung des Gesetzes über die Änderung von Familiennamen und Vornamen" vom August 1938 wurden vom 1. Januar 1939 an alle Juden deutscher Staatsangehörigkeit mit den weiteren Vornamen "Israel" oder "Sarah" gekennzeichnet und gedemütigt.

    Viele der aufgeführten Namen konnten nicht erwähnt werden - es hätte den Rahmen dieses Buches gesprengt. Die "Welt" wird jedoch ab Mitte März eine Serie von Biographien über Personen aus dem Fernsprechbuch von 1941 starten, die von Jäckel nicht porträtiert wurden.

    Jäckel studierte Rechtswissenschaften in Tübingen, Heidelberg und schließlich in Freiburg i. B., wo er 1955 mit dem Ersten juristischen Staatsexamen abschloss. Nach dem Examen blieb er zunächst als wissenschaftlicher Assistent an der Universität Freiburg, setzte dann aber 1957 sein Studium an der Law School der Universität Yale fort und erwarb dort den akademischen Grad eines LL.M. (Master of Laws). 1959 wechselte er als wissenschaftlicher Assistent an das Institut für Rechtsvergleichung (Institut de Droit comparé) der Universität Paris (bis 1960). 1963 promovierte er in Freiburg zum Dr. jur.

    Seine akademische Laufbahn begann J. 1963 mit einem Lehrauftrag am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin, an der er sich 1969 für Politische Wissenschaften habilitierte. Bereits ein Jahr später erhielt er dort eine Professur. Von 1974 bis 1977 war er Erster Vizepräsident der FU Berlin. Neben seiner Hochschultätigkeit engagierte sich J. politisch in der Sozialdemokratischen Wählerinitiative, nachdem er bereits 1968 der SPD beigetreten war. Von 1977 bis 1981 sammelte er als Senatsdirektor (Staatssekretär) in der Berliner Senatsverwaltung für Wissenschaft und Forschung praktische Erfahrung in der Umsetzung bildungspolitischer Auffassungen in die Praxis.

    von Bernd Wannenmacher

    Literatur:
    Hartmut Jäckel, Menschen in Berlin. Das letzte Telefonbuch der alten Reichshauptstadt, Stuttgart/ München: DVA, 2000.

    Weitere Informationen erteilt Ihnen gerne:
    Univ.-Prof. Dr. Hartmut Jäckel, Limastr. 30 c, 14163 Berlin, Tel.: 030 / 8 02 33 55, Fax: 8 02 33 56


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Geschichte / Archäologie, Gesellschaft
    überregional
    Wissenschaftliche Publikationen
    Deutsch


     

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