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18.04.2001 15:00

Alexander von Humboldt und die Widersprüche des Reisens

Ilka Seer Stabsstelle Kommunikation und Marketing
Freie Universität Berlin

    Alexander von Humboldt bereiste von 1799 bis 1804 weite Teile Mittel- und Südamerikas und hinterließ ein monumentales Reisewerk: die 30-bändige "Voyage aux régions équinoxiales du nouveau continent". Neben umfangreichen Darstellungen aus über 20 wissenschaftlichen Disziplinen enthält diese Reihe auch Humboldts Reisebericht, die sogenannte "Relation historique". Aus seinen Tagebüchern, die noch heute im Original in der Handschriftenabteilung der Berliner Staatsbibliothek erhalten sind, redigierte der Berliner Weltreisende nach seiner Rückkehr in Paris diese Schilderung seiner großen Expedition: drei Bände mit mehr als 2.000 Seiten, die dennoch Fragment geblieben sind und nach etwa einem Drittel der Route unvermittelt abbrechen.

    Oliver Lubrich vom Seminar für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Freien Universität Berlin widmet sich nun im Rahmen seiner Alexander-von-Humboldt-Forschungen diesem bisher vernachlässigten Reisebericht. Er "entschlüsselt" den Originaltext und stellt Humboldts Beschreibungen in einen gänzlich neuen Kontext. Anläßlich des 200. Jahrestages der Ankunft Humboldts in Kuba sprach Lubrich in Havanna über Einzelaspekte der umfangreichen Aufzeichnungen. Dort, wie in vielen Ländern Lateinamerikas, wird Humboldt als "Zweiter Entdecker" verehrt. Er dient als Bezugspunkt nationaler Identitätsbildung und ist als Figur des großen Abenteurers und Forschers weitaus bekannter als sein Werk.

    Alexander von Humboldts Reisebericht ist bisher kaum als "Literatur" wahrgenommen worden. Wenn überhaupt, dann las man ihn als Sachbuch. "Dabei handelt es sich um eines der komplexesten und anregendsten Werke der Reiseliteratur überhaupt." Lubrich ist begeistert von den zahlreichen spannenden Episoden, den stilistisch eindrucksvollen Naturbeschreibungen und der literarischen Subtilität: Geradezu beispielhaft lassen sich in Humboldts Text alle möglichen Verfahren beobachten, durch die "fremde" Kulturen wahrgenommen und beschrieben werden. Doch nicht nur das: Humboldt reflektiert seine eigene Haltung immer wieder selbst kritisch. "Es ist daher schwierig und griffe zu kurz, ihm als europäischem Autor pauschal eine "koloniale" Haltung zuzuschreiben", urteilt der FU-Literaturwissenschaftler. Immer wieder nämlich revidiert Humboldt die eigene Perspektive und verändert die Techniken seiner Darstellung. "Das Interessante an seinem epochalen Text ist gerade der Umstand", so Lubrich, "dass sich an ihm beobachten läßt, wie der Kontakt mit der "Fremde" die eigene Wahrnehmung beeinflußt, die eigenen Vorstellungen infrage stellt und letztlich sogar die eigene "Identität" verändert."

    Zwei Beispiele:

    1. Als Alexander von Humboldt in Südamerika eintrifft, bedient er sich zunächst - beinahe automatisch - diverser Motive, Begriffe und Autoren aus der Antike. Um der Fremde habhaft zu werden, greift er zurück auf vertraute kulturelle Autoritäten. Er zitiert Plinius, Aristoteles, Strabo und Seneca. Wenn er Schlangen sieht, denkt er an Laokoon. Einen Fluß im Regenwald vergleicht er mit dem Tiber. Die Eingeborenen erinnern ihn an antike Bronzestatuen... Allmählich jedoch kehrt sich diese Perspektive um: Wenn die Indios im Regenwald wie die Griechen sind, dann sind umgekehrt jene klassischen Griechen - wie diese Indianer: nichts anderes als ein vermeintlich "primitives" Volk. Humboldt gelangt auf diese Weise zu einer Erkenntnis, die 70 Jahre später für Friedrich Nietzsche von großer Bedeutung sein wird und die unser Verständnis der Antike revolutionierte. Er gerät in Widerspruch zur idealisierenden Auffassung eines Winckelmann von der Antike als einmaliger, unübertrefflicher Vorbildkultur, von "edler Einfalt" und "stiller Größe". In der Auseinandersetzung mit den eingeborenen Kulturen Amerikas nimmt Alexander von Humboldt die anthropologische Wende der Altertumswissenschaft vorweg. Das Wechselspiel zwischen dem "Eigenen" und dem "Fremden" führt ihn zu einer fortschreitenden Subversion scheinbar festgefügter Wahrheiten. Im Kontakt mit der Fremde dient Humboldts Klassizismus zuerst als Hilfskonstruktion des Verstehens und als Modell des Vergleichs. Im Verlauf der Reise jedoch gerät genau dieser Klassizismus in eine Krise, in der er sich radikal verändert und im Ergebnis schließlich auflöst.

    2. Eine ganz besondere Rolle innerhalb des Reiseberichts spielt die Insel Kuba: Im Angesicht der Sklaverei, die hier durch die Zuckerwirtschaft besonders ausgeprägt ist, treten die Widersprüche des Humboldt'schen Diskurses zutage. Die Ambivalenz der europäischen Aufklärung zwischen humanistischer Philosophie und wirtschaftsliberaler Politik wird offenbar. Humboldt gestaltet Kuba in diesem Sinne als einen poetischen Raum, in dem alles mehrdeutig wird - als ein "Reich der Ambivalenz". Bereits während der Überfahrt mit dem Schiff aus Venezuela berichtet er von Effekten der Wahrnehmungstäuschung: Dinge sind näher, als sie scheinen, Aroma und Gestank gehen ineinander über. In Havanna angekommen, verfällt Humboldt zunächst in Euphorie: Von der Bucht aus sieht er die kubanische Hauptstadt als schönsten Ort der Welt; als er an Land gegangen ist, eine Seite später, als den widerwärtigsten. Diese Kritik wurde Humboldt später übelgenommen. Der kubanische Romancier Alejo Carpentier beginnt seinen Essay über die Architektur Havannas, "Die Stadt der Säulen", mit einer Korrektur dieses negativen Urteils. Was Humboldt abstieß, der Schmutz und die Enge der Altstadt, liege in der Natur eines tropischen Baustils begründet, der zuallererst als ein Spiel mit Licht und Schatten zu verstehen sei. In der Tat geht es Humboldt hier längst nicht mehr nur um Ästhetik. Die Beschreibung der abscheulichen Stadt Havanna ist dramaturgisch kunstvoll durchkomponiert: Als Humboldt die Altstadt wieder verläßt, kommt er zu einem Platz, auf dem man Sklaven verkauft. Die Inszenierung der kubanischen Hauptstadt als stinkender Sumpf ist eine poetische Strategie, die letzten Endes auf die Verurteilung der Sklaverei zielt. Aber auch hierin scheint sich Humboldt nicht ganz sicher zu sein. Er schwankt zwischen der revolutionären Forderung nach sofortiger Befreiung aller Sklaven und einer vorsichtigen Politik der Reformen, die auf die Interessen der Sklavenhalter Rücksicht nimmt.

    "Die nachhaltige Irritation, die die kubanische Erfahrung bei Humboldt ausgelöst haben muß, ist sogar auf der linguistischen Ebene spürbar: an Humboldts Vokabular." Und dies erläutert Oliver Lubrich so: Genau die Begriffe, die in Humboldts Ästhetik, Philosophie und Wissenschaft bis zur Anreise nach Kuba eine zentrale Rolle gespielt hatten, erfahren nun eine ökonomische und politische Recodierung: "tableau" ist jetzt nicht mehr das dichterische "Gemälde" der Natur, sondern eine "Tabelle", in der die Zahl der importierten Sklaven festgehalten wird; "droit" ist nicht mehr ein universelles "Menschenrecht", sondern ein "Einfuhrzoll", den man auf Menschen erhebt; "culture" hat nichts mehr mit "intellektueller Bildung" zu tun, sondern mit "Ackerbau", der wiederum auf Sklavenarbeit beruht. Über 40 Begriffe sind es, deren Mehrdeutigkeiten Humboldt in dieser Weise ausspielt. Gerade in seiner literarischen Dimension ist der amerikanische Reisebericht ein höchst subtiles Werk, an dem die Herausforderungen, die der Kontakt mit der "Fremde" bedeutet, in all ihrer Widersprüchlichkeit und Aktualität ablesbar sind.

    Weitere Informationen erteilt Ihnen gerne:
    Oliver Lubrich, Seminar für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Freien Universität Berlin, Hüttenweg 9, 14195 Berlin, Tel.: 030 / 304 18 93, E-Mail: lubrich@zedat.fu-berlin.de


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Gesellschaft, Sprache / Literatur
    überregional
    Forschungsergebnisse, Forschungsprojekte
    Deutsch


     

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